Casta Diva. Für Ursula Poznanski

Liebe Ursula.

Heute Abend habe ich ziemlich fest an Dich gedacht.

Ich hatte das Glück, noch einmal ein Kind – mein jüngstes – in seine erste “Norma” zu begleiten. Wir sassen und warteten, und dann trat die Abendspielleiterin vor den Vorhang: Die Sopranistin, die wir hatten hören wollen, sei erkrankt, und stattdessen bitte sie um Wohlwollen für eine junge Kollegin, die ihr Rollendebüt gebe – ihre erste Norma.

Ich war enttäuscht.

Aber nicht lange.

Dann nämlich kam, auf was jeder Opernliebhaber, der in “Norma” geht, mit zitternden Knien wartet. Casta Diva. Vielleicht die schönste Sopranarie der Welt.

Nur noch eine  Sekunde lang bedauerte ich das Fehlen eines routinierten Stars. Dann wurde mir klar, was ich in meinem Leben für ein gottverdammtes Glück habe: Ich würde dabei sein, wenn jemand zum ersten Mal Casta Diva hörte. Ich würde dabei sein, wenn jemand zum erste Mal Casta Diva sang. Ich habe geweint. Mein Kind hat geweint. Und dann habe ich an Dich gedacht. An das, was Du mir vor etlichen Jahren – im später verpönten “Oberstübchen” von Montsegur – gesagt hast, als ich wieder einmal daran verzweifelte, dass ich das Buch, das ich mein Leben lang hatte schreiben wollen,  nicht schreiben konnte. Was immer ich auch tat, ich war nicht fähig. Mein Buch würde nie geschrieben sein.

“Ich weiss, was du meinst”, hast Du gesagt. “Ich habe das lernen müssen, sonst hätte ich nichts anderes machen können: Was immer ich auch tue, ich werde nie Casta Diva singen.”

Wenig später bist Du – so sehr zu Recht – mit “Erebos” durch sämtliche Decken gebrochen, und ich habe mich weiter gestrampelt und habe das lernen müssen wie Du: Ich werde nie Casta Diva singen.

Du weisst nicht, wie oft ich in diesen Jahren daran gedacht habe. Wie oft mir das geholfen hat: Stillzusitzen und zu begreifen, dass das atemberaubend schön ist – auch wenn es wehtut: stillzusitzen, eine junge Frau zu hören, die zum ersten Mal Casta Diva singt und an Ursula zu denken, die es nie singen wird und uns stattdessen “Erebos”, “Saeculum”, “Fünf” und “Layers” geschenkt hat.

Wir haben geweint. Nach dem Vorhang auch die junge Sopranistin unter Standing Ovations. Dann sind wir nach Hause gelaufen und die Welt war still und ganz und gar recht und schön.

Morgen – oder der Tage – kommt mein Buch.

Ich werde nie Casta Diva singen.

Danke, Ursula.

AraratNorma

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Für alle, die auf Post warten

“Ganz unten in der Schachtel lagen zwei Briefe, ein dicker und ein dünner, der dünne aufgerissen, der dicke noch zugeklebt. Auf beiden stand mit Filzstift Chaja, unverkennbar in Wilmas Schrift. Evas Herz begann zu jagen. An keinen Menschen dachte sie mit so viel Widerstreben wie an Wilma. Sie zog den Brief aus dem offenen Umschlag. Er enthielt nur ein einzelnes Blatt:

Mon petit chou.

Nun fährst du also wirklich von deiner komischen Tante, deinem noch komischeren Onkel Paulchen und dem ganzen Haufen hier weg, nach England, wo die Uhren nach dem Mond gehen und die Hunde mit dem Kopf wedeln. Du gehst zwar allein, aber du gehst für uns alle. Zeig denen da drüben auf der nassen Insel, wozu eine Berlinerin aus der Bleibtreustraße imstande ist.

Das war so ganz Wilma. Viele klamaukige Sprüche, um zu verbergen, wie nahe etwas ihr ging. Aber es war auch wieder nicht Wilma – zu steif, zu bemüht, zu sehr um den heißen Brei. Das schlechte Gewissen war spürbar. Hatte sie nicht einmal den Mut gefunden, die betrogene Mutter vor dem Kind zu erwähnen?

Ehe sie sich besinnen konnte, hatte Eva den dicken Umschlag aufgerissen. Er enthielt mehrere dicht beschriebene Bögen:

Liebe Chaja.

Wenn Du diesen Brief liest, bist Du kein kleines Mädchen mehr, das gar nicht lesen kann, sondern eine junge Frau, die sich über das, was in unserer Welt passiert ist und was wir damit gemacht haben, ihr eigenes Urteil erlaubt. Die sich über uns ihr eigenes Urteil erlaubt. Für den Fall, dass Paul und ich dann nicht mehr da sein werden und Du uns nicht fragen kannst, versuche ich, es Dir zu erklären: unsere Tat und unsere Gründe.”

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

Post

Für Clausnitz. Für überall.

Das Kind am Tresen stieß im Schlaf einen Laut aus wie ein kleines Tier. Wilma ging zu ihm und zog ihm eine Decke bis an den Hals. „Die Leute stehen vor den Konsulaten Schlange, um Visa zu bekommen, ganz egal, wohin. Eva hat im Grunde gar keine Chance mehr, schon gar nicht jetzt, wo die Herren Saubermänner in ihrem Schweizer Luxushotel entschieden haben, dass deutsche Juden nicht ihr Problem sind.“

„Was für Saubermänner im Luxushotel?“, fragte Paul.

„Lebst du eigentlich hinterm Mond?“, schnauzte Wilma ihn an.

„Nein. Mit dem Kopf im Sand.“

„So sieht’s aus“, sagte Wilma. „In diesem Luxushotel in Evian saßen Diplomaten aus zweiunddreißig Ländern, um gönnerhaft darüber zu befinden, ob die Gemeinschaft der Völker vielleicht ein paar Verfolgte mehr aufnehmen könne. In so großen, leeren Ländern wie Australien zum Beispiel. Aber die großen, leeren Länder sehen keinen Anlass, sich deutsche Probleme an ihren großen, leeren Hals zu holen, und in die inneren Angelegenheiten des Herrn Hitler mischt sich niemand ein. Hitlers innere Angelegenheiten, das sind meine Freunde: Eva Löbel, Yva Neuländer-Simon, mon petit chou, die gerade fünf Jahre alt ist. So oft wie mir zum Kotzen ist, wundert´s mich, dass ich noch kein Strich in der Landschaft bin.“

Wilma trat zum Wandbord und schnappte sich eine Flasche mit ihrem tödlichen Anisschnaps. Sie schenkte sich ein Glas ein, goss sich den Inhalt in die Kehle und stieß auf. „Willst du auch?“

Paul nickte. „Auf dieser Konferenz ist also entschieden worden, dass die Länder ihre Quoten nicht erhöhen?“

„Der Stürmer hat getitelt: Juden zu verkaufen. Wer will sie? Keiner.“ Ehe sie ihm ein Glas brachte, füllte sie sich ein zweites.

Beim Geruch der Flüssigkeit verhärtete sich sein Magen. „Was sagt Eva dazu?“

„Nichts“, erwiderte Wilma. „Die hat auch den Kopf im Sand. Die Ostjüdin mit den drei Blagen, die hier in der Straße herumstreicht und bettelt, ist schlauer. Der haben sie den Mann verschleppt, seither sammelt sie sich ihr Brot aus dem Müll. Warum sind Sie denn noch hier?, hab ich sie angebrüllt, weil mir das an den Nerven zerrt, diese hohläugigen Kinder mit den klapprigen Gliedern. Und sie hat in ihrem komischen Deutsch gesagt: Weg kann, wer hat Geld. Und jetzt bald auch nicht mehr der.“

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

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Vom Erinnern

Sieben Tage später feierten sie Hayats Aqeeqah. Sie schoren ihr den Kopf kahl, als Zeichen, dass sie eine brave Dienerin Allahs sein würde, und damit das Haar umso dichter nachwuchs. Dann schlachteten sie ein Lamm und luden Freunde und die Armen des Viertels dazu ein. Am Morgen danach fuhr Sedat mit Hayat zwei Stunden lang in die Stadt Van. Emine musste ebenfalls mitkommen, um Hayat zu stillen, doch sie würde im Auto warten, während er auf die Insel übersetzte.

Es war ein heißer Tag, die Straßen waren staubig und die Luft trieb Schweiß. Die Fahrt führte über nacktes Land, in dem es keinen Schatten gab. „Danke, dass du diese Strapaze auf dich nimmst“, sagte Sedat zu Emine.

„Ich tue das gern für dich“, antwortete sie. „Ich möchte nur wissen, warum du unbedingt diese Fahrt machen willst, am Tag nach Hayats Aqeeqah, ihrem Segensfest.“

„Es ist für mich wie ein zweiter Segen“, gestand er.

„Warum diesmal? Braucht unsere Tochter einen zweiten Segen, weil du dir Sorgen um die Lage in Europa machst, um diesen Deutschen, der spricht, als wolle er die Welt in Brand stecken?“

Sie fuhren aus der Stadt hinaus, ans östliche Ufer des Vansees. Vor ihnen erstreckte sich die leuchtend blaue Fläche, aus der klar und einsam die Insel ragte. „Ja, ich mache mir Sorgen, ich finde, ein zweiter Segen kann nicht schaden, aber du kennst mich. Ich kann mich gut in meine jahrtausendealte Welt eingraben, und wenn ich mit dem Kopf in Urartu bin, sorge ich mich um Urartu, sonst nichts.“

Sie hielt ihm stand. „Sag mir, warum du dorthin willst. Warum du aus den Trümmern, aus den Resten von dieser Tragödie, die wie Narben am Körper unseres Landes sind, Segen für deine Tochter erwartest?“

„Weil Erinnern Segen ist, Emine. Was vergessen ist, ist nicht nur sinnlos gestorben. Es hat sinnlos gelebt.“

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

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One and only

Die Werbung macht heute Pause.

Stattdessen erlaube ich mir, diesen Hinweis einzuwerfen, da mich gestern schon jemand gefragt hat, warum ich die gesamte Existenz meines Romans Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein” – minutiös dokumentiere, dabei aber tunlichst verschweige, dass er einen Vorgänger hat.

Das tut mir leid.

Es sieht aus, als wäre der Vorgänger mir peinlich, und das ist er nicht. Ganz und gar nicht. Er ist eine Sie, heisst Hatti – “Die Stadt der schweigenden Berge” – und war mir unter meinen Büchern das liebste, bis Ararat kam. Hätt’ ich die Hatti nicht gehabt, hätte ich auch keinen Ararat.

Trotzdem ist das eben passiert. Der kleine ist über die grosse hinausgewachsen. Nicht nur, was die Länge angeht (Ararat hat knapp 200 Seiten mehr). Bei der Hatti habe ich irgendwann – erstaunlich spät! – bemerkt, dass ich jetzt mein Thema am Wickel hatte (wie man einen Roman planen kann, ohne das zu merken, ist ein spannendes Thema, das ich hier gern einmal diskutieren möchte). Bei Ararat wusste ich von Anfang an: Das ist meins. No or never.

Im Ergebnis ist Ararat ein sehr anderes Buch geworden – und jetzt habe ich Angst, dass die beiden sich gegenseitig nicht Dampf machen, sondern sich die Leser verschrecken. Dass mir noch nie ein Buch so wichtig war, geht aus diesem Blog wohl mehr als deutlich hervor (dumdidum). Deshalb wünsche ich ihm jeden einzelnen Leser, jede einzelne Rezension, die wir bekommen können, buhle um jeden von euch, säusele, zirze

und versichere in diesem Sinne: Ararat ist ein Einzelroman, auch wenn es ein Buch gibt, das von Ereignissen im Leben von zwei seiner Figuren erzählt. Er kann völlig unabhängig gelesen werden – und spricht hoffentlich besonders die Leser meiner Charlotte-Roth-Romane an.

Über Blogger, die bereit wären, ihn zu rezensieren, freuen wir uns weiterhin und bitten um Nachricht (charlie@charlotte-lyne.com), damit ich mich um ein Rezensionsexemplar bemühen kann.

Einen schönen Tag wünschen Charlie, Ararat und Hatti – Geschwister, keine Zwillinge

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Für alle mit offenen Türen

Doris langte hinüber und tätschelte ihr durch den dicken Rockstoff das Knie. Anfangs hatte Amarna sich davon befremdet gefühlt, aber sie hatte es auch wärmend, rührend und tröstlich gefunden. So wie die ganze Doris, die ihnen beim Einzug ins Haus gepoltert war und körbeweise Kasserollen, Schinken, Schweinepasteten und Battenbergkuchen in ihrer Küche abgestellt hatte. „Sie kommen ja jetzt nicht zum Kochen, und solange es nicht nach Essbarem riecht, ist so ein Haus doch kein Zuhause.“

Doris Taylor. Als hätte in der fremden Stadt doch jemand auf sie gewartet.

Sie borgte Amarna ihre Wurzelbürste, damit sie die Steintreppe vor ihrem Haus scheuern konnte. Amarna hatte in ihrem Leben nie eine Treppe gescheuert und wollte die Bürste schon zurückgeben, aber Arman bestand darauf, sie zu benutzen. „Wenn man das in England so macht, dann machen wir es auch.“

Amarna liebte ihn. Sie hätte zwei Grabstelen für ihn um die halbe Welt geschleppt, aber sie scheuerte keine Treppe für ihn. Dafür, dass er nicht auf die Idee kam, es von ihr zu erwarten, liebte sie ihn umso mehr. Als Doris ihn auf schwarz behosten Knien auf der Treppe erwischte, nahm sie ihm die Scheuerbürste weg und klopfte ihm wie einem kleinen Jungen die Hosenbeine sauber. „Wenn Ihre Marnie dafür keine Zeit hat, mache ich eben Ihre Treppe mit, wenn ich unsere schrubbe. No problem.“

Doris Taylor. Als ließe sich mit einer Wurzelbürste die vertrackte Welt wieder sauber schrubben, solange man vor der eigenen Haustür zuerst kehrte.

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

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Love again

Ist kein Tag der Liebe mehr, in Syrien werden Menschen in Krankenhäusern zerfetzt, aber mir war danach. Trotzdem oder deshalb – weiss nicht.

 

“Zwischen graugrünen Niedersträuchern bogen sie um eine Felsnase, und dann kam die Kirche in Sicht. Das, was von der Kirche übrig war. Das Bild hatte sich ihr aufs Herz gelegt, es war noch dort, und jetzt stand die Erinnerung auf. Damals hatte sie Arman bei sich gehabt. Er hatte nicht herkommen wollen, hatte behauptet, Aghtamar, das Heiligtum Khor Virap, der weiße Berg Masis, die Gräber von Urartu, das alles habe mit ihm nichts zu tun. Als sie ihn aber hier hatte, gaben sein staunender Blick, seine Ehrfurcht, seine Verzauberung ihr Recht. Er hatte ihre Hand in der seinen gestreichelt und mit ihr zusammen die steinernen Reliefs berührt.

Es war so schön, ihn dort zu sehen, wo seine Wurzeln waren, er passte so gut hierher. Die Kirche war zerschlagen worden, aber das löschte nicht aus, dass sie tausend Jahre hier gestanden hatte. Sie hatten sich ins Gras gelegt, zwischen die lila Blüten, hatten einander Aprikosenhälften in den Mund geschoben und nach dem Gipfel des Berges Ausschau gehalten, der in seinen Nebeln verschwand.

„Es ist nicht zu hart für dich, nicht wahr? Es quält dich nicht?“

„Nein, gar nicht“, sagte er, noch immer staunend. „Ich dachte, es würde mich demütigen. Aber es macht mich stolz.“

„Mich auch.“

„Danke, lajvard. Ich habe jetzt einen Platz, an den ich mir meine Toten denken kann. Auch die, die ich mir nicht vorstellen kann. Danke, dass du es mir geschenkt hast.“

„Kann ich ja nicht. Ist ja deins.“

„Findest du?“ Er war aufgestanden, hatte sie zu sich in die Höhe gezogen und um die eigene Achse gewirbelt. „Alle Männer, die sich verlieben, wären gern Könige, oder?“

„Du bist einer.“

„Dann schenk ich’s alles dir, und du musst immer bei mir bleiben, weil das unfair wäre, einen König zu verlassen, der dir sein ganzes Land geschenkt hat.“

„Was du da machst, nennt man nicht schenken, sondern kaufen, Enkidu.“

„Kann ich dich kaufen, lajvard? Für tausend Jahre? Ich klau mir noch zwei Königreiche und geb sie dir dazu.“

Für tausend Jahre, mein Herz. Vielleicht sind Hitlers tausend Jahre länger als unsere, aber unsere waren so, als hielte das Leben uns im Arm.”

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

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Valentinstag – Plaisir d’Amour II

Und dann noch die Werbung zum Valentinstag.

Die Szene dafür lasse ich meine Romanfigur Doris Taylor (https://www.facebook.com/Doris-Taylor-679850792147846/?fref=ts) aussuchen, nicht nur weil sie – zusammen mit ihrem männlichen Gegenpart Bülent – meine Lieblingsfigur (und die Lieblingsfigur der Testleser) ist, sondern auch weil ich, glaube ich, noch nie eine Figur geschrieben habe, die sich aufs Lieben verstand wie Doris und Bülent.

Ich hatte nur zwei Bedingungen: Die Szene sollte von der Liebe handeln und sie sollte in Paris – der Stadt der Liebe – spielen. Doris fiel das leicht: Paris ist ihre Lieblingsstadt und “sowas Staubiges, was ohne Liebe ist, das les ich eh nicht.”

Wenn ihr Ararat und mir ein bisschen Schwung gebt, eure eigenen Liebesszenen dazustellt, uns teilt und eine Liebeskette quer durchs Netz daraus macht, freuen wir uns sehr! Und verabschieden uns in den Valentinstag. Love, Charlie, Doris und Ararat.

„Sei mir nicht böse“, sagte Arman. „Ich fand, es ist nicht die richtige Zeit, um so viel Geld in den Abfluss zu schütten.“

Stattdessen lag in der Wanne ein silbernes Etuikleid, wie die Prinzessin in der Frauenzeitschrift es getragen hatte. Es war für Doris‘ Größe angefertigt worden, und sie weigerte sich, etwas anderes zu tragen, während sie durch Paris streiften, durch Museen und Kunstgalerien, durch Restaurants und Bistros, durch das Kaufhaus Lafayette, wo sie für Jordan einen Koffer voll Garderobe aussuchten, durch Theater, über Märkte und durch den kürzlich eröffneten Zoo. Auf dem Quai de la Tournelle, wo man den unglaublichen Sternenhimmel über den Türmen von Notre Dame bewundern konnte, küsste sie Amarna auf den Mund. Ihr Abendessen hatte aus fünf Gängen bestanden, und Doris‘ Kuss schmeckte nach Käse und Zwiebeln.

„Gib das Black Beauty von mir, ja?“

„Kannst du ihm selbst geben.“

Doris schüttelte den Kopf. „Den hab ich so lieb wie meinen Bruder, der bekäme überallhin einen Kuss von mir. Aber der Mund ist für die Liebste, und Schluss.“

Die Seine glänzte wie Öl und zog viel langsamer vorbei als die Themse, so als führe ein Fluss in Paris kein hektisches Leben. „Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast, Dee.“

„Edward hieß er“, sagte Doris. „Mein Zwilling, aber das hat man gar nicht gesehen. Teddy war so ein schlanker, fescher Kerl wie dein Süßer, dem hat auch die Uniformhose auf den Hüften gesessen, dass unsereinem der Mund wässrig wird.“

„Dein Bruder war Soldat?“

Doris nickte. „Im letzten Kriegsjahr haben die den noch geholt.“

„Und er ist nicht wiedergekommen?“

Sie beugten sich über das Geländer und sahen den spiegelnden Lichtern auf dem Fluss zu. „Ich hab mir immer gesagt, wenn ich mal einen Jungen hab, wird das ein Ted“, sagte Doris. „Aber wie dann ein Mädchen kam, hab ich gedacht: Mein Teddy, der ist übern Jordan, und dabei ist es geblieben.“

Amarna nahm Doris Gesicht in die Hände und küsste sie auf den Mund. „Lieb dich, Dee.“

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

Parispont

Metamorphosen

Mein Traum

ist  jetzt

ein Buch.

Schau mal, Ararat …

Araratmetamorphosen

Der ganz links, das warst du im Embryonalstadium. Die Kladde habe ich im Dezember 2013 sofort nach Landung gekauft (nicht etwa in London, sondern bei Karstadt Berlin),  nachdem du mir während des Fluges in meinen Kopf geplatzt warst. Darin hab ich alles gesammelt, was mir begegnet ist und ein Teil von dir werden wollte. Da ich damals die ganze Welt durch eine von dir geformte Brille betrachtete, wollte irgendwie auch die ganze Welt ein Teil von dir werden.

Der zweite von links wurdest du, als die Kladde mit den Notizen aus allen Nähten platzte. Das war, als wir im Vorderasiatischen Museum Berlin, unseren ersten Termin hatten. Gleich nach den Gesprächen habe ich dir dort im Shop die Kladde gekauft und angefangen, dein Konzept einzufüllen.

Der zweite von rechts, der mit dem Rosetta-Stone-Design aus meinem, deinem, unserem British Museum, der lag schon hier und wartete auf dich. Darin ist deine allererste Version entstanden, die ich “Bleistift-Version” nenne, obwohl ich sie bei dir als einzigem meiner Romane mit einem Tintenstift geschrieben habe. Erst als ich vor lauter Durchgestreiche diese Version kaum noch entziffern konnte, habe ich angefangen, dich in meinen Computer zu tippen.

Und der ganz rechts, Ararat – ob ich’s glaub oder nicht – der bist du jetzt. Meine schönste verrückteste Idee, mein Traum, mein Hast-du-nicht-Stress-genug? tut so, als wäre es das Normalste auf der Welt, ein Buch zu sein.

Danke, Ararat. In deine vier Papierohren von links nach rechts flüstere ich dir nichts als die Wahrheit: Für mich bist du das schönste Buch auf der Welt.

Nur der in der Mitte, den Corinna uns geschenkt hat, der warst du nie, my love, und der wirst du auch nie sein.

Das ist Smyrna.

 

 

 

 

Niemand wartet in dieser Stadt

So hätte ich meinen Roman Ararat nennen wollen. Stattdessen steht die Zeile von Mascha Kaleko jetzt vor dem ersten Teil. Und vor den anderen Teilen stehen auch Zeilen von der Berliner Dichterin, die sich entwurzeln musste und in eine Stadt fliehen, in der niemand auf sie wartete.

So wie meine Figuren Professor Brandstätter und Paul.

“Professor Brandstätter wartete in einem grauen Mantel und mit einem einzigen Koffer am Bahnsteig. Paul trug ebenfalls einen grauen Mantel und hatte einen einzigen Koffer. In ihren Reisepapieren standen zur Sicherheit bereits falsche Namen.

„Ihre Bekannte?“

Paul schüttelte den Kopf. Es war ihm nahezu unmöglich, zu sprechen, und so erging es ihm die ganze Fahrt über. Brandstätter sagte auch fast nichts, murmelte nur auf den einzelnen Bahnhöfen die Namen der Städte, die auf den Schildern standen. Dass er sie wiedersehen würde, war unwahrscheinlich. Er war über siebzig, und mit einer Wende im Kriegsgeschehen war nicht zu rechnen, jetzt, wo die Amerikaner erklärt hatten, ein Eingreifen komme für sie nicht in Frage. Aber er hatte seine Tochter, die in London auf ihn wartete. Er bekam eine Familie. Wenn er dazu nichts weiter tun musste, als Arman Artsruni auf die Schulter zu klopfen, konnte Paul ihn nicht sonderlich bemitleiden. Die meisten Leute waren im Herbst des Jahres 1941 vor schlimmere Aufgaben gestellt.

Auf ihn, Paul, wartete niemand in der fremden Stadt.

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein”. Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

Londonmorning