Liebe Ursula.
Heute Abend habe ich ziemlich fest an Dich gedacht.
Ich hatte das Glück, noch einmal ein Kind – mein jüngstes – in seine erste “Norma” zu begleiten. Wir sassen und warteten, und dann trat die Abendspielleiterin vor den Vorhang: Die Sopranistin, die wir hatten hören wollen, sei erkrankt, und stattdessen bitte sie um Wohlwollen für eine junge Kollegin, die ihr Rollendebüt gebe – ihre erste Norma.
Ich war enttäuscht.
Aber nicht lange.
Dann nämlich kam, auf was jeder Opernliebhaber, der in “Norma” geht, mit zitternden Knien wartet. Casta Diva. Vielleicht die schönste Sopranarie der Welt.
Nur noch eine Sekunde lang bedauerte ich das Fehlen eines routinierten Stars. Dann wurde mir klar, was ich in meinem Leben für ein gottverdammtes Glück habe: Ich würde dabei sein, wenn jemand zum ersten Mal Casta Diva hörte. Ich würde dabei sein, wenn jemand zum erste Mal Casta Diva sang. Ich habe geweint. Mein Kind hat geweint. Und dann habe ich an Dich gedacht. An das, was Du mir vor etlichen Jahren – im später verpönten “Oberstübchen” von Montsegur – gesagt hast, als ich wieder einmal daran verzweifelte, dass ich das Buch, das ich mein Leben lang hatte schreiben wollen, nicht schreiben konnte. Was immer ich auch tat, ich war nicht fähig. Mein Buch würde nie geschrieben sein.
“Ich weiss, was du meinst”, hast Du gesagt. “Ich habe das lernen müssen, sonst hätte ich nichts anderes machen können: Was immer ich auch tue, ich werde nie Casta Diva singen.”
Wenig später bist Du – so sehr zu Recht – mit “Erebos” durch sämtliche Decken gebrochen, und ich habe mich weiter gestrampelt und habe das lernen müssen wie Du: Ich werde nie Casta Diva singen.
Du weisst nicht, wie oft ich in diesen Jahren daran gedacht habe. Wie oft mir das geholfen hat: Stillzusitzen und zu begreifen, dass das atemberaubend schön ist – auch wenn es wehtut: stillzusitzen, eine junge Frau zu hören, die zum ersten Mal Casta Diva singt und an Ursula zu denken, die es nie singen wird und uns stattdessen “Erebos”, “Saeculum”, “Fünf” und “Layers” geschenkt hat.
Wir haben geweint. Nach dem Vorhang auch die junge Sopranistin unter Standing Ovations. Dann sind wir nach Hause gelaufen und die Welt war still und ganz und gar recht und schön.
Morgen – oder der Tage – kommt mein Buch.
Ich werde nie Casta Diva singen.
Danke, Ursula.