Pour toi, Armenie

Mignons Lied

 

Nur wer die Sehnsucht kennt

Weiß, was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jener Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,

Ist in der Weite.

Es schwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnsucht kennt

Weiß, was ich leide!

 

Goethe,

Ausgeborgt von Charlie Lyne.

 

Eigene Worte hab ich derzeit nicht und bitte dafür um Entschuldigung. Ich fühl‘ mich so still. Mir fehlt Yerevan, als wär’s meins. Mein Yerevan. Also sitz‘ ich hier, hasse meine Arbeit, liebe meinen Roman, den ich nicht schreiben kann, und vermisse eine Stadt wie einen Menschen. Für die hohen Feiertage, die wie immer kostbar waren, habe ich mir diesmal nur eines gewünscht: Dass wir hier drüben, wo’s gemütlich ist, verdammt nochmal die Augen offenhalten und auf Menschen überall da, wo’s das nicht ist, verdammt nochmal achten.

Pass auf dich auf, Yerevan.

Und weil mir derzeit sonst nichts einfällt, schick ich demnächst – so meine Administratorin mir hilft – etwas Schöneres als mein Gestammel.

Von Yerevan.

Und vom weltschönsten Berg.

 

Ich hoffe, alle Leser unseres Blogs hatten wundervolle Ostern.

Alles Liebe von Charlie&Carmen

P.S.: Ganz ganz herzlichen Dank für die vielen Mails und Comments zu meiner Buchverloseaktion. Ich habe mich so gefreut. Aus sehr persönlichen Gründen lose ich die Bücher nicht morgen, sondern am Donnerstag aus und freu mich darauf.

Buch-Verschenktag

Vor dem Blogschreiben habe ich mich gefürchtet. Nicht so sehr wie vor Twitter und Facebook, vor denen ich mich noch immer mit den wildesten Ausreden drücke, aber doch erheblich. Ich habe meine Parole – „Ich tue das nur für Hatti und Ararat“ – als Banner vor mir hergeschleppt und kam mir vor wie ein Held. Jetzt stelle ich höchst amüsiert fest, dass dieser Blog (dieses Blog? Ich weiß es immer noch nicht) zu den (wenigen) Dingen gehört, die ich in Yerevan vermissen werde. Weshalb ich jetzt schon beschlossen habe, von der in Stein gehauenen Regel ‚No Internet in Holy Week‘ abzuweichen und zumindest einen Wir-sind-wieder-da-Gruß zu platzieren. Das hier ist ja eigentlich gar kein Blog, oder? Es ist Ararats Progress Report.

Ararat geht’s trotz widrigster Umstände blendend, und da ich ihn in den Wochen, die noch ein bisschen widriger waren als diese, vielleicht aufgrund mangelnder Kraft in den Händen nicht mehr hätte festhalten können, möchte‘ ich mich gern bedanken. Günstig trifft sich, dass meine Freundin und Administratorin mir erzählt hat, zum Welttag des Buches würden Blogger  Bücher verschenken. Das möcht‘ ich auch machen! Lieber würde ich eine Kiste wundervoller Bücher kaufen, aber da ich auch weiterhin vergesse, mir einen Lottoschein zu besorgen, muss es leider billiger gehen, weshalb mir nur meine eigenen bleiben (was ein bisschen peinlich ist).  So here we go:

Am 2. Mai, sehr passend am Morgen nach dem Tag der Arbeit, erscheint mein neuer Roman „Als wir unsterblich waren“ unter meinem Pseudonym Charlotte Roth. Des Weiteren hat mich eine freundliche Leserin darauf aufmerksam gemacht (ich Tütli bekomme sowas ja immer nicht mit), dass im Mai außerdem die Taschenbuchausgabe meines historischen Romans „Kains Erben“ erscheint. Also habe ich zwei brandneue, druckfrische, und möchte gern je zwei davon verschenken (Nur Print! Um ebooks zu verschicken, bin ich leider zu doof, aber bis Ararat kommt, hab ich das gelernt, versprochen). Und da der ganze Aufriss hier eigentlich einem Buch (bzw. anderthalb Büchern) von der Carmen gilt, verdonnere ich die, auch noch eins rauszurücken, „Im Tal der träumenden Götter“, das andere hat sie nicht mehr.  Bedingungen gibt’s keine. Wenn jemand eins davon haben möchte, hinterlässt er bitte hier einen Comment oder schreibt mir eine Mail (charlie@charlotte-lyne.com) und lässt mich wissen, welches er gern hätte.  Nur eine Bitte hätte ich: Bücher möchten gelesen werden, deshalb bitte nur melden, wenn ihr Lust und Zeit habt, das Buch zu lesen, nicht, es unter irgendwelche ominösen Stapel zu schieben. Wenn ihr’s eurer Oma, eurem Schwippschwager, eurem Friseur schenken wollt, der’s gern lesen würde, ist das natürlich genauso gut.

Sollte es mehr Interessenten als Bücher geben (hach …), lasse ich meinen Sohn auslosen und gebe am Welttag des Buches die Sieger bekannt. Dann bitte beachten:  Bis die Bücher kommen, dauert’s noch ein bisschen, denn sie erscheinen ja erst im Mai und müssen dann zweimal mit Royal Mail (keine gute Nachricht …) hin und her. Eine Widmung reinschreiben kann ich gern, bin aber (wirklich!) nicht beleidigt, wenn ihr keine möchtet, um das Buch hinterher weiterzureichen.

Nur Lesen wäre schön. Darüber würden wir uns freuen.

Charlie&Carmen, Hatti & Ararat

So what?

Die im Wesentlichen fruchtlose Diskussion von gestern hätte mich für gewöhnlich auf Tage entmutigt und gelähmt. Das So-what-Gefühl, das mir stattdessen entgegen grinst und ordentlich Schwung macht, kenne ich so nicht. Natürlich hilft dabei der freundliche Hinweis der Kollegin, die bemerkte, dass andere Autoren sich so viele schwurbelige Darf-ich-Fragen gar nicht stellen, sondern das, was für ihre Geschichte notwendig ist, einfach tun. Aber am meisten hilft, glaube ich, dass ich zum ersten Mal das Gefühl habe, solch ein Autor zu sein – einer, der das, was für die Geschichte notwendig ist, einfach tun kann, weil er weiß, was es ist. Und auch einer, der sich nicht mehr einreden lassen will, seinen eigenen Roman zu schreiben, bedeute zwangsläufig, einen Roman an Lesern, an Menschen vorbeizuschreiben.

Faszinierenderweise sind die, die anderen das einreden möchten, zumeist die, die darauf beharren, sich die Bücher zu schreiben, die sie selbst gern lesen würden. Die  haben sich selbst den Gütestempel ‚Staatlich geprüfter Lesegeschmack‘ verliehen, der mir fehlt. But so what? Der ist ja kein Rollsiegel, sondern höchstens ein Klebeschildchen, das ich mir mit ein bisschen mehr Courage auch aufkleben kann. Ich möcht‘ mir auch ein Buch schreiben, das ich selbst gern lesen würde. Das meine Freunde gern lesen würden. Das, was ich in dem bisschen gestohlener Zeit, zusammenkritzele, macht mir solche Freude, dass es unmöglich völlig danebenliegen kann. Wozu habe ich eigentlich zehn Jahre lang die Literaturen dreier Kulturkreise studiert und zwanzig Jahre lang mit wenig mehr als Literatur gearbeitet, wenn ich noch immer jedem erlaube, mir einzureden, ich hätte von dem, was Menschen lesen, keine Ahnung?

Ich trau mir das jetzt mal zu. Zu wissen, dass ich das lesen möchte und dass ich es so schreiben kann, dass andere es auch lesen möchten. Zu wissen, dass es nicht nur einen Weg zur Leser-Seligkeit gibt – und zwar einen, der mir gar nichts sagt und mich nicht selig macht. Ich teile mein kleines Haus mit zehntausend Büchern, sodass wir Menschlein uns dazwischen klein wie Bonsais machen. Im Studium habe ich am Monatsende meinen Mann gefragt: Essen wir heute Hardcover oder Paperback? Wieso bin ich kein Leser? Ich hab zudem den absoluten Massengeschmack. John Steinbeck, Graham Greene, Philip Roth und Ernest Hemingway reißen doch nicht weniger Leute vom Hocker als Diana Gabaldon! Ich lese gern Christoph Ransmayr und Andrea Schacht, Julia Kroehn und Nagib Machfus, Conan Doyle und das Gilgamesch-Epos. Für mich passt das prima. Ich finde, mein Geschmack ist groovy.  

Ich mache Zweitausendundvierzehn zu meinem Alles-ist-erlaubt-Jahr: Ich darf Ossip Mandelstam lieben und mich auf einen neuen Krimi von Volker Kutscher freuen. Ich darf ‚Ulysses‘ in den Mund nehmen, ohne mich danach im Erdloch für Freaks zu verkriechen. Ich darf wissen, dass ich nicht Joyce bin und trotzdem darüber nachdenken, was ich mir von Joyce gern mal ausborgen würde. Ich darf glauben, dass ich und meine Freunde Leser sind. Ich darf ein Buch schreiben, das mir selbst gefällt.

Fröhlichen Tag, Ararat. Ich setz‘ mich heut‘ Abend mit Dir ein bisschen zum Säuseln in den Garten und finde dich so sexy wie einen schönen Mann im Webpulli.

Love,

Charlie

Und weil …

… es uns heute so gut geht, der Carmen, Ararat und mir, und weil der Tag voller Licht ist, noch rasch eine Freude für alle, die hier vorbeikommen, ein Geschenk von Ossip Mandelstam, aus ‚Die Reise nach Armenien‘:

„Mein Buch spricht davon, dass das Auge ein Instrument des Denkens ist, dass das Licht eine Kraft und dass das Ornament Gedanke ist.“

Schieflage

In der Biographie von Elfriede Lohse-Wächtler, die ich lese (Regine Sondermann: „Kunst ohne Kompromiss“) , steht: „Frieda weiß nicht, was ihre Hand vorhat. Die Hand setzt Linie an Linie und Punkt an Punkt, folgt einem Befehl aus dem Kopf und tut doch, was sie will.“ Und: „Das Fahrrad im Hof kann doch nicht mir nichts dir nichts so stehen bleiben, ohne dass jemand es abzeichnet, Speiche für Speiche.“ Und schließlich: „Bliebe die Speiche schief, würde die ganze Frieda immer schiefer.“
Es ist mir grundsätzlich peinlich, wenn ich vor solchen Sätzen in Künstler-Biographien stocke und etwas von mir zu erkennen glaube, weil mir das vorkommt, als vergliche ich mich mit einem Künstler. Das habe ich nie getan. Ein Künstler ist für mich einer, der ein Kunstwerk produziert, und was – in der Literatur – ein Kunstwerk ist, hat mir am überzeugendsten, grellsten und knappsten Raoul Schuster erklärt (früher, als wir noch nen Kaiser hatten): „Stimmt das, was der Autor gewollt hat, mit dem, was der Autor erreicht hat, überein, liegt ein Kunstwerk vor.“ Das trifft nicht auf mich. So einfach ist das.
Trotzdem fasst mich das, was Regine Sondermann über Elfriede Lohse-Wächtler schreibt, an, weil sich derzeit mein Leben so anfühlt. Ich ziehe mit meinen Ararat-Kladden umher, die ich nicht einmal mehr in den Rucksack stecke, weil ich nie weiß, was meine Hand vorhat, und ständig etwas abzeichnen muss, Speiche für Speiche. Ich fühle mich seit Monaten so schief, dass ich schon glaube, beim Laufen seitlich auf und ab zu schwanken, weil ich nicht alle Zeit der Welt stehle, um Ararats Speichen, bis sie gerade sind, zu zeichnen, sondern stattdessen ein wandelnder Kompromiss mit schiefen Speichen bin. Bisher habe ich mich bei jeder Unze Zeit, die ich meiner Arbeitszeit abgezogen habe, wie ein Verräter an meiner Familie gefühlt, weil jede Unze Zeit sich in etwas umrechnen lässt, das meine Familie sich deshalb nicht leisten kann. Jetzt knirscht es in meinem Gebälk und gibt mir zu spüren, dass die ständigen Kompromisse auch eine Art von Verrat sind. Wie ich damit weitergehe, mächtig schief und doch aufrechter als vorher, weiß ich noch nicht. Aber mich freut, dass ich noch nicht zu stumpf bin, um am Schieflaufen ins Stolpern zu geraten.

Inspiration

Gestern hatte ich das unschätzbare Privileg, im Museum einen Workshop der Lyriker Jenny Lewis und Adnan al Sayegh zu erleben, die über mesopotamische Literatur sprachen. Seither sind überall in meinem Kopf kleine Steinschläge. Wir gingen dann noch hinüber in die Galerien, um uns Ashurbanipals Löwenjagd anzusehen, ich schaute eine gefühlte halbe Stunde lang einen Pfeil an, der aus dem Relief herausragte, Adnan al Sayegh las in zum Niederknien schönen Arabisch ein Gedicht vom Stehen in Malmö und Sich-Sehnen nach Mesopotamien, und das Leben war unverschämt reich und schön. Niedergekniet bin ich nicht, aber ich hatte in meiner engen Kehle einen enorm festen Klumpen.
Vermutlich einmalig in Zweitausendundvierzehn ist die Tatsache, dass ich den ganzen Abend durchgehalten habe, ohne ein einziges Mal nach innen ‚Ich bin müde‘ zu schreien. Warum ist eigentlich diese Felsspalte, die zwischen Arbeit, die man tun will, und Arbeit, die man tun muss, klafft, so unüberwindlich tief?
Müßige Frage, leider, denn natürlich habe ich auch an diesem Wochenende vergessen, einen Lottoschein zu kaufen. Mehr fasziniert mich, während mein Kopf die Bilder aus Urartu, die Bilder aus Mesopotamien, die Bilder aus dem Ausstellungskatalog ‚Entartete Kunst‘ zusammensetzt, warum da eine so tiefe Spalte klafft zwischen Romanen, die man schreiben will oder schreiben muss, und Romanen, die man einfach schreibt. Ohne zu wollen, ohne zu müssen, nur weil man der, der man ist, eben ist. Das klingt hübsch verquer, fühlt sich aber völlig geradeaus gedacht an. Mir wird glasklar, was den Unterschied zwischen Hatti und Ararat und all den anderen (die ich zum Teil mit glühender Leidenschaft schreiben wollte) ausmacht. Sie sind meine. Ich schreib sie einfach, auch wenn ich nicht schreibe, sondern durch die assyrischen Galerien spaziere und wundervolle arabische Gedichte anhöre, von denen ich kein Wort verstehe. Ich schreib sie einfach und hätte sie auch dann noch geschrieben, wenn ich meine Sprache nicht mehr verstünde oder keinen Bleistift und kein Papier mehr hätte (hab ich aber – das Museum hat mir gestern welches geschenkt, was ich kaum annehmen konnte, weil ich mir in diesem Museum sowieso immer vorkomme, als wäre ich dem Weihnachtsmann persönlich begegnet).
Ich kann mit Ararat durch die Gegend wandern und er kommt ganz allein in meinen Kopf. Swimathon mit den Kindern, laut durch die Messe lachen mit dem Enkel, steinhartes Flachbrot backen, Klaus Mann wiederlesen, armenische Lieder auf den i-Pod laden, abends Carcassonne spielen, sich über den Buchmarkt aufregen, stundenlang über Zivilisation schwätzen und sich nach Mesopotamien sehnen, das ist alles Ararat. Und das einzige Problem, das wir jetzt noch haben ist, dass auch überall da Ararat ist, wo er als einziges nicht hingehört: In meiner Arbeit …

The Swerve

Als ich gestern Nacht nach Hause kam, hat mich A, der nicht schlafen konnte, noch auf der Schwelle gefragt: Ist das der Tag, an dem das Jahr in die Wende geht?
Über das abergläubische Festklammern an Zeiteinheiten als „gut“ oder „böse“ sollten wir in unserem Alter hinaus sein, und für Himmelhochjauchzend-zu-Tode-betrübt fehlt uns in Zweitausendvierzehn die Kraft. Aber trotzdem. Ja, ich will das jetzt glauben, gestern, März siebenundzwanzig, war der Tag, an dem das Jahr in die Wende ging. Das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, habe ich nicht, denn ich musste gar nicht kämpfen. (Auch wenn es mich leicht schockiert hat, dass mir nicht nur die Hände, sondern sämtliche Gliedmaßen zitterten. In Dates mit dem schönen Geschlecht kenne ich mich bedeutend souveräner …) Es ging alles von allein. Du hast Glück, Hatti. Du hast ganz unverschämtes, gottverdammtes Glück, Dich betreut nämlich jemand, der Romane so gern mag wie Pferde und mit beidem ohne Zynismus umgeht. Zwar werden wir zwei in unserer Kraken-Umklammerung allmählich zum Treppenwitz, aber das steht und schmeckt uns. Und Du darfst jetzt das werden, was ich mir für Dich gewünscht habe: Nicht mehr als ein Ferner-liefen-Roman. Aber mein Ferner-liefen-Roman. Der beste, den ich (und die Carmen, ja ja) schreiben kann. (Psst, ein Cover hast Du auch schon, aber ich hab’s noch nicht gesehen, also kann ich’s Dir auch nicht beschreiben. Aber Du wirst lachen, Hatti. Ich hab überhaupt keine Angst.)
Und dann hab ich tatsächlich mich – MICH – wenn auch wie eine Hundertjährige schlotternd, sagen hören: „Ich werde diesen Roman schreiben.“ Ich habe ziemlich lange nichts mehr gesagt, das so gut getan hat. Und das Ergebnis? Wir hören jetzt mal auf, uns so aufzuregen. Wir hören jetzt mal auf, verzweifelt um uns zu schlagen. Wir verlagern unser Gewicht, geben am Zügel eine sachte Parade und lenken dieses Jahr in die Wende. Wir machen unsere Arbeit. Und dann schinden wir ein bisschen Zeit und schreiben diesen Roman.
Was für eine hinreißende Erfahrung – zitternd darauf zu warten, dass zur Antwort ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ kommt und ‚Warum denn nicht?‘ zu erhalten.
Über die andere gute Nachricht muss ich selbst hier, in meiner privaten Quasselecke, schweigen. Und das ist auch besser, die Nachricht ist nämlich so gut, dass sie mich abergläubisch macht. Also besser abwarten, bis ich sie schwarz auf weiß in den Fingern hab. Ich glaub, zum ersten Mal in Zweitausendundvierzehn habe ich fest geschlafen und kann ganz tief atmen. Das minimale Restzittern kommt nur von der Schieflage, vom Jahr, das sich in der Wende legt. In einer Woche fliegen wir nach Yerevan. Love you, Hatti. Love you, Ararat. Love you, Two-Thousand-Fourteen.

Day X

Heute ist der Tag, Ararat. Ich habe gestern im Museum Dein Exposé so sauber gemacht, wie ich konnte, und schaue es nachher noch einmal durch. Mehr kann ich nicht tun, und das macht mich gerade viel nervöser, als ich zu sein hoffte (vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich bis zum Abend ja noch irgendwie meine Arbeit wegschaffen muss).
Im Gedächtnis behalten möcht‘ ich aber auch, dass wir es sehr schön hatten, gestern. Und wenn man es so schön haben kann mit einem Roman, wenn man ihn wie als Siebzehnjährige an seinen Lieblingsort schleppt, um ihm in eine Kladde mit Rosetta-Stone-Muster in Erstklässler-Schrift zwölf Zeilen zu schreiben, dann scheint etwas daran richtig zu sein. Es ist schön mit Dir, Ararat. Das schönste daran ist, dass es sich so unzynisch anfühlt. So weit weg vom Buchmarkt. So nah bei uns. Ararat, born in the British Museum.
Außerdem haben wir gestern noch Fotos für Hattuša gemacht, die Carmen, die das Museum umarmt, was windig und amüsant war. Wir sind also, soweit das überhaupt möglich ist, bereit und müssen uns jetzt ein bisschen Mut machen. Wer einen Daumen frei hat, den bitten wir, ihn uns heute Abend zu drücken.
Charlie&Carmen, Hattuša&Ararat

Ende Kitsch, alles Kitsch?

Läge der Teufel im Detail, in der sprachlichen Gestaltung, wo ich ihn von je her suche, dann wäre es nicht so schwierig, ihn mit Stumpf und Stiel auszurupfen. Ich habe das jetzt bei der Twelfthnight gesehen: Die Substanz ist in Ordnung. Und stilistisch muss vor allem ausgedünnt werden, dafür könnte ich – wenn mir selbst die Fähigkeit fehlt – zur Not sogar einen Lektor nehmen. Damit habe ich nicht gesagt, eine Neigung zu stilistischen Kitsch-Entgleisungen sei unproblematisch. Das sehe ich nicht so, da ich das ja erlebe, dass meine Kitsch-Ergüsse die andere Seite einer sprachlichen Unfähigkeit ist: Dort, wo mir die Sprache splittert und entgleitet, weil ich ihr nicht gewachsen bin, muss der Kitschpott zum Überkleistern her. Das ist ein Problem und bleibt eines. Bei einem so fetten Buch wie Twelfthnight lässt es sich aber relativ leicht verringern, indem man jede Menge betroffene Szenen streicht oder erheblich verknappt, ohne dass in der Substanz etwas knirscht. Im Gegenteil.
Viel größer ist meine Angst, der Kitsch-Katalysator könnte tiefer sitzen – in der Dramaturgie. Und dass er da bei der Hatti sitzt, weiß ich, wenn ich ehrlich bin, selbst. Heute morgen beim Laufen war mir zum Haare-Ausreißen: Warum habe ich der Hatti dieses Ende geschrieben?
Ich mag solche Enden nicht. Ich habe mehreren meiner Bücher aus kommerziellen Gründen eins geschrieben, und dazu stehe ich. Materielle Zwänge sind materielle Zwänge, da lohnt kein Grübeln, nur Lottoscheinkaufen. Ich habe aber bei der Hatti gar nichts aus kommerziellen Gründen gemacht. Damit kann ich mich nicht rausreden. Ich kann auch nicht behaupten, ich hätte nicht gewusst, was ich da mache, denn dass man solchem Stoff kein solches Ende aufklatscht, habe ich eigentlich schon in Klassenstufe Elf gelernt (mindestens). Mit Kollegen diskutiert hab ich’s auch noch. Vom Aufschrei des medizinischen Berater-Teams ganz zu schweigen.
Mir ist das während des Wartens auf Nachrichten über den tragischen Flug MH 370 wiederum aufgefallen: Mit jedem Tag, der verstrich, versuchte man, mit der Himmelsmacht um ein schrumpfendes Stück Hoffnung zu feilschen: Lass das Flugzeug heil gefunden werden. Lass die Hälfte überlebt haben. Lass eine Arche mit zehn Überlebenden geborgen werden, mit fünf, mit dreien, mit einem einzigen! Dass am Ende der große schwarze Gong kommen würde, haben wir trotzdem gewusst.
Der geht nicht im Unterhaltungsroman. Und den möcht‘ ich im speziellen Fall auch nicht, den fände ich genauso falsch wie meine rosa Torte Moskau. Statt dieser zwei Extreme hat man – finde ich – zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt eine Hauptfigur auf einer zerfetzten Tragfläche lebend aus dem Wasser fischen – dann muss man aber im Finalbild die Katastrophe noch einmal zeigen („A Night to Remember“ ist dafür ein gelungenes Beispiel, finde ich). Oder man benutzt das ,Die Karawane zieht weiter‘-Schema, das ich schöner finde. Dann gibt’s nur eins: Hauptfigur opfern. Franz Werfel macht das. Es ist ganz und gar richtig, es ist diese Art Ende, vor dem wir: Nein, schreien wollen, das wir aber hinnehmen und ganz knapp aushalten und das deshalb bei uns bleibt, wenn wir den großen schwarzen Gong erfolgreich verdrängt und die rosa Torte Moskau längst vergessen haben.
Warum habe ich das also so nicht geschrieben? Wenn ich mir jetzt selbst ins Ohr blasen will: „Weil ich nicht Franz Werfel bin“, höre ich mir nicht zu, weil das eine platte (und überstrapazierte) Ausrede ist. Ich bin nicht Franz Werfel, aber ich habe gewusst, wie mein Roman zu Ende gehen muss, auch schon bevor ich ‚Musa Dagh‘ gelesen habe, und ich habe nicht einmal versucht, es so zu machen. Obwohl ich ‚Die Karawane zieht weiter‘ liebe. Und Torte Moskau eklig finde.
Soll ich mich jetzt in der Luft zerreißen? Davon hätte ich wenig. Besser ich fasse mir ein Herz und gebe mir die richtige Antwort: Ich habe das gemacht, weil ich nicht wollte, dass die Geschichte an der Stelle überhaupt zu Ende ist.
Na bitte. So schwer war’s gar nicht, oder? Schön finde ich das nicht. Aber vertretbar, wenn ich mich jetzt nicht um das drücke, was es in Konsequenz bedeutet. Ich muss die Geschichte zu Ende erzählen. Richtig zu Ende. Die Karawane zieht weiter.
Dass damit mein Roman kitschfrei gerät, bleibt zu bezweifeln, aber das gibt mir nicht das Recht, ihm überhaupt nicht die Chance dazu zu lassen. Mir geht es jetzt besser. Ich kann wieder atmen, weil meine Langleitung sich schließlich bereitgefunden hat, sich zu erinnern, dass Kitsch nicht deshalb schlecht ist, weil uns das Lehrer Hempel in Klasse Neun mal so beigebracht hat, sondern weil er falsch ist. Weil er eine Geschichte falsch macht und ihr das Lebendige abdrückt. Das, was bei uns bleiben könnte und sogar (ein bisschen) gegen den großen schwarzen Gong anstinkt, weil wir’s glauben können.
Ganz nebenbei haben sich im Zuge dessen die Probleme mit den zwei Frauen und den zwei Antagonisten von selbst gelöst, und das ist auch nicht verwunderlich. Ich glaube, Du kannst mir jetzt wieder trauen, Ararat. Und mit mir ins Museum gehen.

E la solita storia …

Dieser Tage habe ich gehört, eine sehr bekannte, erfolgreiche Autorin habe gesagt, wer heute Schriftsteller (sic!) werden möchte, müsse wissen, dass das ein kränkender Beruf sei. Ich kann das jetzt nicht verifizieren, kenne auch die Autorin und ihre Texte nicht, und lasse das einfach mal so stehen.
Für mich stimmt das (auch wenn Schriftsteller nicht mein Beruf ist). Manchmal so, dass ich’s mit dem Rest vom Leben ausgleichen kann, und manchmal so, dass es mir den Atem nimmt. Dieses Jahr ist bisher entschlossen, sich als von der atemberaubenden Sorte zu erweisen, und ein bisschen gehe ich nach drei Monaten schon in die Knie. Aber man wird eben älter, und meine Knie waren zum Marathonlaufen schon immer besser geeignet als zum Schreiben. Gemein wird’s erst, wenn ich wieder mal aus meinem Wolkenkuckucksheim schrecke und bemerke, dass sämtliche Tiefschläge des Veröffentlichens – scheußliche Covers, schlechte Verkaufszahlen, Lektoratsprobleme, verschleppte Zahlungen, verlorene Rechte – mich nicht so sehr kränken wie ich mich selbst. Die schlimmste Kränkung, die, die mich lahmlegt, ist immer die Feststellung, dass auch der brandneue Roman wie seine Vorgänger an der einen Krankheit leidet, an der er nicht leiden sollte: Kitsch.
Mit ihren anderen Fehlern kann ich leben. Die zwicken, aber sie kränken nicht und sie legen mich nicht lahm. Wenn mir einer sagt, meine Bücher sind zu lang, muss ich lachen. Ja, das sind sie, sie hätten schlanke Selleriestangen werden sollen und sind fette Schinken geworden, aber sie sind ja auch von mir (Vegetarier …), und in dem vielen Gesabbel und den Erklärungen zum Kauf einer Bahnsteigkarte erkenne ich zwar nicht meine erfreulichste Seite, aber eine, die ich auch weiterhin wasche. Wenn mir einer sagt, meine Bücher sind düster, trifft mich das, weil ich das nicht bin und weil meine Bücher das nicht sein sollten, aber eigentlich mag ich „düster“ lieber als „rosig“. Es ist nicht verkaufsfördernd, aber es schlägt mir auch nicht auf den Magen.
Kitsch tut das. Kitsch ekelt mich. Kitsch stampft das, was ich mit meinen Geschichten möchte und mir für meine Figuren wünsche, kaputt. Kitsch treibt mich zur Verzweiflung, weil ich mich ihm gegenüber so hilflos fühle. Ich mag keinen lesen. Ich mag keinen schreiben. Wie kommt der dann in meine Geschichten?
Bis ein Roman veröffentlicht ist, betätige ich mich als Meister des Selbstbetrugs, wobei mich nach wie vor fasziniert, wie viel ich mir unbesehen glaube. Während der Überarbeitung fühle ich mich mit gefletschten Zähnen als gefährlicher Kitsch-Hunter, der eine Schmeißfliege nach der anderen platt klatscht und zudem ein Heer tapferer Testleser mit roten Kitschalarm-Leuchten um sich hat. Dann folgt das Lektorat. Wenn mir da noch was in die Finger kommt, rupf ich’s aus und reibe mir die Hände, aber sofort danach beginnt die Drei-Affen-Phase: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Zu Deutsch: Ich tue so, als wüsste ich, dass DIESMAL alles in Ordnung ist mit meinem Text und rühre ihn nicht mehr an, damit ich nicht in Versuchung komme, zu bemerken, wie gewaltig ich mich gerade selbst zum Hansi mache.
Die Belege, die verschickt werden müssen, stopfe ich hastig in Umschläge. Die Kiste mit dem Rest kommt postwendend nach oben, ins Kramzimmer. (Ich lass die immer meinen Mann schleppen, damit mir kein Buch aus Versehen aufklappt …) Dann kommt die erste Rezension, meistens von irgendeinem reizenden Menschen, der irgendwo das reizende Wort „kitschfrei“ unterbringt. Das ist der Augenblick, in dem der Autor, wenn er einen Erbonkel hätte, eine Flasche Champagner kaufen gehen würde. Darauf folgen die Leserunden. Dazu muss das Buch aus der Kiste geholt und aufgeklappt werden, und zeitgleich betritt der erste, nichts Böses wollende Leser die Bühne, der amüsiert grinsend feststellt: „Mensch, Charlie, das ist ja – Kitsch!“ Und das ist der Moment, in dem der Autor, wenn er einen stabileren Magen hätte, eine Flasche Absinth kaufen gehen würde. Und das Buch aus dem Fenster feuern.
Weshalb passiert mir das? Ich unterrichte Creative Writing. Ich coache Romanautoren. Ich lektoriere Romane. Ich kann erklären, wie man einen Cliffhanger setzt und einem Antagonisten Kraft gibt, wie man einen Spannungsbogen straff zieht und einen Figurenpark auf handhabbare Größe reduziert. Aber ich weiß nicht, wie man eine Geschichte erzählt, ohne sie zu kränken, ohne sie mit künstlichen Aromastoffen zu vergiften, ohne ihr die Würde zu nehmen, indem man ihre schönen, klaren Fugen mit Schmalz zukleistert.
Mich macht das so traurig. Mir tut das für meine Geschichten so leid. Ich weiß keine Abhilfe. Selbst wenn ich – was ich sehr gern für meinen Roman tun möchte – Geld, das ich nicht habe, ausgebe, um ein Seminar oder einen Coach zu buchen – gibt es eins oder einen mit dem Motto „Kitsch vermeiden“? Ich habe keines gefunden, ich kenne in dem ganzen Haufen hilfsbereiter Kollegen, von denen ich schon so viel gelernt habe, keinen, der mir sagt: „Pass mal auf, jetzt erkläre ich dir mal, wie du das Schritt für Schritt üben kannst.“
Ich weiß noch, wie verzweifelt ich war, als ich das in Twelfthnight entdeckt habe, in meiner Twelfthnight, von der ich so sicher war, die hätte das nicht nötig. Damals wollte ich unbedingt eine Geschichte über Erasmus von Rotterdam schreiben, weil ich sicher war, da hätte ich das Problem dramaturgisch vermieden, weil die Mann-Frau-Story, bei der mir das immer passiert, nicht enthalten ist. Mich hat das damals keiner schreiben lassen. Und heute sitz‘ ich noch deutlich beknackter da, weil die Story, in die ich verliebt bin, DIE BEIDEN STORIES, IN DIE ICH VERLIEBT BIN, ohne Mann&Frau nicht funktionieren. Ist an der Stelle schon der Wurm drin? Ist der Abstand zwischen Autor und Sujet nicht groß genug? Aber die, wo der Abstand massig war, enthielten auch Kitsch. Nur hat’s mich da weniger gekratzt, weil’s mir nicht so sehr wie Verrat vorkam.
Ich finde Kitsch nicht hübsch. Ich finde Kitsch so unappetitlich wie Schmalz und Kohl und Torte Moskau. Vor allem (ich fürchte, darauf läuft’s bei mir derzeit immer hinaus) finde ich Kitsch so fürchterlich unerotisch. Ich kann doch verdammt nochmal einem Roman nicht einen so chicen Namen wie Ararat geben und ihm dann die Ritzen mit Blümchen-Klopapier vollstopfen!
Ararat, das darf uns nicht passieren. Ich sollte ganz furchtbar mutig sein und die Hatti anschauen, um endlich herauszufinden, warum mir das passiert. Aber ich bin gerade das Gegenteil von ganz furchtbar mutig. Ich fühl mich klein, ich hab Angst um Dich und ich verkriech mich jetzt und fahr‘ mit Dir ins Museum. Morgen, ja? Oder übermorgen. Oder dann, wenn ich den Coach entdeckt habe, der uns hilft und der das Anti-Kitsch- Programm für panische Möchtegern-Autoren erfunden hat.