Das große Finale – out with a bang!

Und dann ist auf einmal alles vorbei, die Lichter werden gedämmt und der Buzz versandet. Aber eine derart vor Leben platzende Kreatur wie das London Film Festival 2022 legt sich nicht einfach so schlafen, ohne ein letztes Mal alles zu geben und ganz groß auf die Pauke zu hauen.

Out with a bang. With a big one.

Zur Closing Gala sind sie noch einmal alle da – von dem genialen Brian Johnson zu Trisha Tuttle, der wir schon jetzt hinterher weinen, von James Bond zu Dave ‚Drax‘ Bautista, der wirklich und wahrhaftig zwei Reihen vor mir saß. (Mann, Kerl, ich bin eine alte Dame. Hätte glatt einen Herzinfarkt bekommen können …)

Was sie uns mitgebracht haben, macht uns endgültig zu Never-Forgetters:

Eine Glitzerzwiebel mit mehr als sieben Häuten – ‚Glass Onion‘. 

Die perfekte Wahl.

Nein, ich werde nicht einmal versuchen, objektiv zu bleiben. Das einzig nicht wundervolle an ‚Glass Onion‘ ist, dass er jetzt vorbei ist, dass es eine Ewigkeit dauert, bis ich ihn wiedersehen kann, und dass es nie, nie, nie mehr so sein wird, wie es gestern war.

So showy, so glitzy, so zwiebelhaft vielschichtig, so clever, so witzig, so wundervoll boshaft, so schwarz, so bunt, so geschliffen, so explosiv, so – was soll ich denn noch sagen?

Ist er so gut wie ‚Knives Out‘?

Falls jemand mich fragt, ist er sogar noch besser, aber vergesst nicht: Ich bin nicht objektiv.

Er war ja kein Film, sondern unser Abschiedslied, mit dem zwölf Tage im Paradies uns hinterherwinkten. 

Das nahezu komplette Ensemble aus grandios begabten Menschen am Ende noch einmal zu sehen, wie sie kicherten, witzelten und flirteten, als wäre ein Freundeskreis aus Studententagen versammelt, war nicht nur eine zärtliche Zugabe, sondern zeigte auf, wozu Leute in der Lage sind, wenn sie an einer derart glücklichen Kooperation teilhaben. ‚Glass Onion‘ ist Spaß, ‚Glass Onion‘ ist Kino, ‚Glass Onion‘ ist Kunst und Quatsch und Leben.

Wenn ihr es noch nicht gesehen habt, freut euch auf etwas, das euch in diesem kalten Winter warmmachen wird.

Ich beneide euch.

Danke, LFF 2022.

Das letzte, was mein Mann gestern Nacht noch zu mir sagte, war: „Ich sehe uns schon. Nächstes Jahr. Beim Programme Reveal.“

Es war das einzige, was es zu sagen gab.

Kurz vor Toresschluss: ‘Pinocchio’ und ‘Till’ – ein betörender Alptraum. Und ein Problem.

Als Kind hatte ich Angst vor ‚Pinocchio‘. Szenen daraus schienen geradewegs meinen Albträumen zu entstammen, und ein gewisses Gefühl von Beklommenheit bleibt mir bis heute. Außerdem war da noch Guillermo del Toros ‚Shape of Water‘, von dem mir weit mehr als nur Beklommenheit bleibt. Der Film ist mir von Herzen zuwider, und umso überraschter war ich von ‚Nightmare Alley‘, in den ich mich sofort verliebte.

Aber trotzdem oder deshalb  – Nightmare bleibt Nightmare …

Ich fand, ich hätte eine ganze Reihe guter Gründe, mich vor del Toros ‚Pinocchio‘ zu fürchten, und ich behielt recht. Er entstammt definitiv meinen Albträumen. Den Albträumen unserer Epoche. Und er ist ein wundervoller Film.

Vielleicht waren die Dialoge und Sprecher nicht sonderlich gut, wie meine Begleiter anmerkten. Wenn ja, dann habe ich davon nichts bemerkt, weil ich visuell überwältigt war. Ich kann nur eine Handvoll Animation Films nennen, die ich so komplett, so atemberaubend und so einzigartig in ihrer Vision fand wie diesen: Das großartige ‚Snow White‘ fällt mir ein, ‚The Hunchback of Notre Dame‘ und ein bisschen weniger augenfällig auch ‚Encanto‘. Keiner von ihnen ähnelt jedoch diesem. Überhaupt keiner ähnelt diesem, er ist ganz und gar er selbst und aus meiner Sicht eine ungewöhnlich angemessene und verblüffend couragierte Interpretation von Collodis Erzählung.

Was del Toro hier in einem Familienfilm aufs Korn nimmt, habe ich nie zuvor in eine Animation Film gesehen (ich bitte anzuerkennen: gebe mir gerade große Mühe, Spoiler zu vermeiden …). Und er trifft ins Schwarze. Es ruft eine Flut von Bildern wach – Bilder, die Albträumen und solchen, die der Realität entstammen, und zwischen beiden gibt es keinen Unterschied. Als der Film zu Ende war, war ich sofort entschlossen, ihn meinen Enkeln zu zeigen. Weil er so schön ist, weil er solchen Spaß macht und weil es das ist, was wir zusammen zu tun lieben: Verträumte Nachmittage vor traumhaften Filmen zu verbringen. Ebenso aber weil er ihnen auf verkraftbare Weise einen Alptraum zeigen wird, den wir alle auch weiterhin haben müssen. Weil er gerade wieder Realität werden will. Und weil er nichts lieber möchte, als dass wir ihn vergessen. 

Guillermo del Toro, der diesen Film seinen Eltern widmet, vergisst nicht, und auch dafür bedanke ich mich. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten scheint er doch noch ganz und gar ‚mein‘ Regisseur zu werden. Ein bisschen wie die Songs in seinem Film. Von jedem einzelnen dachte ich anfangs: Ach nein, das ist nichts für mich … nur um ein paar Takte später zu beginnen, mich wie Pinocchio zu wiegen. Und unhörbar zu summen.

Gleich anschließend sahen wir ‚Till‘ der amerikanischen-nigerianischen Regisseurin Chinonye Chukwu, und meinen Kommentar dazu halte ich kurz:

Der Film und ich kamen nicht zusammen, und ich fühle mich deswegen schlecht. Es scheint mir nicht richtig, als weiße, privilegierte alte Frau ein Urteil darüber abzugeben, wie eine junge schwarze Regisseurin einen Film über diese Ereignisse machen sollte. 

Ich war von den – aus meiner Sicht – komplett ‚weißen‘, Hollywood-haften and leicht trivialen Mitteln, derer der Film sich bedient, enttäuscht (ganz besonders von der sentimentalen Musik, die ich kaum weniger unerträglich fand als ‚Vom Winde verweht‘). Enttäuscht war ich auch von der – aus meiner Sicht – zu linearen, komplett vorhersehbaren Erzählweise, die auf sämtliche emotionale Knöpfe drückte, und wäre es der Fiim eines weißen Regisseurs gewesen, hätte ich ihn als Oscar-Fänger abgetan.

Aber das ist er nun einmal nicht.

Und wie eine schwarze Regisseurin von diesen Ereignissen erzählt, entscheidet sie. Nicht ich und meinesgleichen.

Es ist gut, dass es diesen Film gibt, und wenn er den Oscar bekommt, ist es auch gut und ein wichtiges Zeichen. 

Danielle Deadwyler ist darüber hinaus großartig und verdient, was immer sie bekommt.

Und ich wünsche mir wirklich, ich hätte den Film mögen können. Ich hoffe, unzählige Menschen mögen ihn und finden mich doof.

Lindholms ‘The Good Nurse’ – Ich setze mich als Coach zur Ruhe …

… und zeige künftigen Kunden nur noch Tobias Lindholms neuen Film ‚The Good Nurse‘. Und mir selbst zeige ich ihn zuerst. Eine Geschichte so blitzsauber, so knapp, so messerscharf, so straff und durchdacht erzählen zu können, wünsche ich mir mein Leben lang. Lindholm hat den Zuschauer innerhalb von Minuten an der Angel, stellt augenblicklich Figuren in den Raum, die vor Leben beben (‚Leute‘, würde Hemingway sagen. ‚Nicht Figuren, sondern Leute …‘) und erschafft eine Dringlichkeit, die es unmöglich macht, den Blick auch nur einen Moment lang von der Leinwand abzuwenden. Er betritt jede Szene genau im richtigen – späten – Moment und verlässt sie den einen Sekundenbruchteil früher, als uns behagt, was einfach unwiderstehlich anzusehen ist. Habe ich vor ein paar Tagen vollmundig behauptet, ich würde mich um den perfekten Film nicht scheren? Dann nehme ich alles zurück, denn dieser ist der perfekteste Film unserer Festival-Auswahl und er ist durch und durch ein Fest. Natürlich hilft es, in Jessica Chastain und Eddie Redmayne ein Paar perfekter Schauspieler zur Verfügung zu haben und ihnen mit Nnamdi Asomugha einen Gegenspieler liefern zu können, der ihnen gewachsen ist. Aber es braucht eben einen Regisseur wie Tobias Lindholm, um aus diesen Schauspielern herauszuholen, was sie zu bieten haben.

Nein, keinen Regisseur „wie‘.

Da ist keiner „wie“.

Chapeau, Mr. Lindholm – und bis hoffentlich bald.

Anschließend sahen wir noch ‚Medusa Deluxe‘ des umwerfend sympathischen jungen Regisseurs Thomas Hardiman. Dass das nicht mein Film war, mag partiell daran liegen, dass ich zum Friseur ungefähr so gerne gehe wie zum Zahnarzt und dass ich Mühe hatte, mich zu entscheiden: Ist es eine Komödie, die nicht lustig ist, oder ein Thriller, der nicht spannend ist? Auch der one-take-shot kam mir ein bisschen vor, als hätte Thomas Hardiman sich gefragt: Welche Geschichte passt denn zu meinem Trick, nicht welcher Trick passt zu meiner Geschichte? Aber das macht alles gar nichts. Es ist ein Vergnügen, einen jungen Filmemacher zu erleben, der experimentiert, mit seinen Mitteln spielt und sich voller Selbstbewusstsein etwas traut. Was diesmal für mich nicht funktioniert hat, mag mich das nächste Mal eiskalt erwischen. Ich freu mich darauf und bin gespannt.

The three are back! Bruges liegt diesmal in Irland, und eine Überraschung folgt zum Dessert

Die drei sind wieder da!

Und der Jubel, der ausbrach, als sie dreieinigst auf die Bühne stampften, sagt alles.

Wer wie ich der Ansicht ist, dass ‚In Bruges‘ einer der unglaublichsten, verblüffend wundervollsten Filme ist, die je gedreht worden sind, der hat Grund zur Freude: Hier haben wir ohne Wenn und Aber ‚In Bruges 2‘ – mit einem einzigen Unterschied: ‚In Bruges‘ weckt in mir den verzweifelten Wunsch, jetzt sofort nach Bruges zu fahren. Der neue hingegen, ‚Banshees of Inisherin‘, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, nicht in Inisherin zu sein … 

Aber das war’s dann auch schon.

Wie man es schafft, Einsamkeit auf die Leinwand zu stellen, ohne sie im Mindesten weichzuspülen, zu beschönigen oder auch nur abzumildern, dem zum Trotz ein komplettes vollgestopftes Kino (die Royal Festival Hall, to be precise …) in röhrendes Gelächter zu versetzen, und obendrein noch ein Dingens von derart makelloser Schönes zu kreieren, werde ich nie verstehen. Und das muss ich ja auch nicht. Ich kann bar jeder Verpflichtung darin schwelgen. Und dann losziehen und auf der Stelle ‚In Bruges‘ sehen wollen. 

Vorzugsweise in Bruges.

Colin Farrell, Brendan Gleeson und Martin McDonagh auf einem weiteren schrulligen, verrückten, tiefsinnigen, pechschwarzen, fantasievollen, weisen und wundervollen Höhepunkt, und nur ein Wunsch bleibt übrig: Bitte lasst uns nicht zu lange auf den nächsten warten!

Wie wäre es beispielsweise mit ‚In Dar es Salaam‘?

‚Die viel zu vielen Säulen von Athen‘?

‚Zwei Männer und ein Regisseur in Honolulu‘?

Your choice! Wo immer es euch hinverschlägt – ich bin an Bord.

Und dann noch der Palm d’Or Sieger – ‘Triangle of Sadness’

Ich war überzeugt, ich würde in dieser Komödie nicht lachen können, sondern einzig die begabte, erst zweiunddreißig Jahre alte Charlbi Dean anstarren, die nicht mehr hier ist, um ihren Film willkommen zu heißen. Tatsächlich konnte ich aber mit dem Lachen nicht aufhören. ‚Triangle of Sadness‘ (was für ein genialer Titel!) war nicht im Mindesten vorhersehbar und ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Fraglos fehlten ihm die Tiefe und Dimension, die man mit einem Sieger von Venedig assoziiert, aber mich hat’s nicht gekratzt. Nach der Schwere (no pun intended) von „The Whale“ und „The Son“ war mir das leichtfüßig Hergehüpfte mehr als recht. Ich habe mich köstlich unterhalten, fand Ruben Östlunds Film prachtvoll schwarzhumorig, gleichzeitig clever und dämlich, herrlich anzuschauen, mit sicherer Hand geschrieben und rundum ein tolles Kinoerlebnis. Wie so vielen Filmen in diesem Jahr hätte auch diesem ein bisschen Straffung gutgetan, und der letzte Akt ist dann nicht mehr so spritzig wie der Rest. Aber dieser Rest hat mir viel Spaß gemacht, und ich kann ihn für die dunkle Jahreszeit nur empfehlen.

Lotti Lyne und Sam Mendes träumen vom ‘Empire of Light’

Muss ich hier jetzt hier was Vernünftiges schreiben? 

Echt?

Lieber schreib‘ ich, was ich zu meinem Mann gesagt habe, als wir aus dem Kino kamen: Wenn man als junger Mensch verzweifelt Filmemacher werden will, einem aber das Talent fehlt – warum kommt man eigentlich nicht auf die Idee, stattdessen ein kleines Kino zu eröffnen?

Wir gingen sehr eng und sehr sentimental nach Hause und dachten: 

Hätten wir das gemacht, wären wir jetzt bankrott, aber wow, was hätten wir die Köpfe voller Bilder.

Anyway. Ich versuch‘ mich noch an was Vernünftigem:

Gestern Abend, auf der glamourösen Amex Gala, als Sam Mendes anfing zu erklären, worum es in seinem Film ging, wurde mir mulmig zumute, denn in Filmen, bei denen erklärt werden muss, worum es in ihnen geht, geht es so gut wie nie um etwas, das ich sehen will. Mich interessiert nicht, ob einer die Geschichte seines eigenen Lieblings-Haustiers verfilmt hat, sondern einzig und allein, ob mich das Haustier auf der Leinwand berührt.

Und dann war da ja noch der große ‚1917‘, der eigentlich mein Film des Jahres hätte werden müssen: Mein Thema, mein Genre, mein Lieblingskameramann … ich habe nie richtig verstanden, warum ich ihn dermaßen gimmicky und gewollt fand, warum er mich so kalt ließ.

‚Empire of Light‘ war wieder mein Thema, mein Genre, mein Lieblingskameramann (Unser aller Lieblingskameramann, oder? Roger Deakins? Der Beste, den wir haben) – und auf einmal war ich mir sicher, ich würde ihn grauslig finden.

Aber ich lieb‘ ihn. Ganz wirklich.

Er hat etliche Schwächen: Viel zu viele Themen in einen einzigen kleinen Film gequetscht, viel zu viel Gedichte-Leserei (wer möchte denn auf der Leinwand Gedichte vorgelesen bekommen? Die Leinwand ist gemacht, um den Augenblick zu feiern, nicht um versuchsweise Ewigkeit zu schaffen), und ein Schlussakt, bei dem nichts mehr hilft als ein kompletter Schnitt (Olivia Colemans leuchtende Augen und ihr ‚Show me a film!‘, das ist das einzige Ende, das taugt. Der Rest in die Tonne bitte). Er müsste unbedingt scheitern, aber bei mir traf er ins Schwarze. ‚Empire of Light‘ zeigt mir einmal mehr, wie viel lieber mir ein Werk ist, das Schwächen und Fehler aufweist, aber authentisch, mutig, originell und zärtlich ist, als ein perfekt poliertes wie ‚1917‘, das in der Welt zu sein schien, um einen Oscar zu gewinnen (den es verblüffenderweise nicht gewann) und aus keinem anderen Grund.

Ich kann endlich eingestehen, dass ich Sam Mendes‘ großen Film nicht mochte. Aber ich liebe seinen kleinen. Ich fand ihn liebevoll, nostalgisch, warm und aufrichtig. Roger Deakins‘ Bilder sind schmerzlich schön, der Mensch wird einfach nur besser und besser, und für das Ensemble gibt’s gar keine Worte. Die sind ein Genuss, Aufnahme für Aufnahme. Herausragend für mich: Tom Brooke und natürlich our one and only Olivia Coleman.

Ich hatte einen wundervollen Abend. Einen Kinoabend, wie ich ihn mein Leben lang liebe, voller Popcornduft, Plüsch und Musik, voller Träume und Tränen.

Und wenn ich noch einmal jung wäre, würde ich einen Kredit aufnehmen, ein kleines Kino eröffnen und eines Tages bankrott da sitzen, wenn die Lichter ausgehen. In meinem eigenen Empire of Light.

A Cow for Brendan Fraser – Patron’s Gala mit Darren Aronofskys ‘The Whale’

Allzu viel über den Film wird in diese Besprechung nicht passen. Der Platz wird benötigt. Für Brendan Fraser. Dem British Film Institute verdanken wir diese grandiose Patron’s Gala, die mitzuerleben, ein Privileg war, und als nach dem prachtvollen Buzz samt winkendem Darren Aronofsky schließlich die Vorführung begann, überfiel mich ein höchst seltenes Phänomen, das ich ‚Heath-Ledger-feeling‘ getauft habe: eine kribbelnde Gewissheit, gleich etwas Großes zu erleben.

Und in der Tat. Wir haben etwas Großes erlebt, auch wenn sich Frasers Darstellung in ihrer Demut, Nacktheit, Verwundbarkeit und in ihrem rückhaltlosen Mut weit eher mit der von Joaquin Phoenix als mit der von Heath Ledger vergleichen lässt. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein höheres Lob kaum zu vergeben habe. Go, save a cow, Brendan. Ich hab’s damals gesagt, und ich sag’s jetzt: Gebt dem Mann den Oscar. Da kann unmöglich noch etwas kommen, das auch nur annähernd mithält – mit einem Schauspieler, der zwei Stunden lang aufzeigt, wie weit Schauspiel gehen kann: Bis zu einer Selbstentblößung, ja Selbstaufopferung, die vermutlich – hoffentlich – kathartisch für ihn gewirkt hat, und die kathartisch für uns wirken kann, wenn wir es ihr erlauben. Eine Studie in Mitgefühl, in Demut, in Hingabe, die etwas in uns in Bewegung setzen kann –etwas sehr Gutes, sehr Starkes, etwas, das heilt. 

Als das Licht anging und dieser bildschöne Mensch heraustrat und sich so tief verbeugte, wie ich es nie zuvor bei einem Schauspieler gesehen habe, fand ich, dass stattdessen wir uns vor ihm hätten verbeugen sollen und uns schweigend bei ihm bedanken.

Ich bin jedoch sicher, die Standing Ovations hat er als Ersatz gern genommen. Vielen Dank, Mr. Fraser.

Applaus auch für Darren Aronofsky, der mit diesem Film ein gehöriges Maß an Courage und verblüffende Empathie bewiesen hat. Seine Regie schafft einen klaren, knappen, kompakten Film, der ohne Frage beeindruckt – aber wiederum nur, wenn wir es ihm erlauben. Es tut mir weh, einzugestehen, dass ich fürchte, der Film ist – zusätzlich zu den erwarteten Hemmschwellen – zu bühnenhaft, zu ‚geschrieben‘ für das ganz große Publikum (auch wenn die vollgestopfte Festival eine Begeisterung aufbot, wie ich sie lange nicht gesehen habe). Außerdem war ich enttäuscht von der Leistung von Sadie Sink, die keine Lust zu haben schien, für ihr Geld mehr zu tun als hin und her zu stampfen und dabei auf mich frappierend talentlos zu wirken. Auch Hong Chau konnte mich nicht völlig überzeugen, weshalb ich mehr als vier Sterne für den Film insgesamt nicht vergeben kann. Das hindert mich allerdings nicht daran, ihn zu lieben und ihm für seinen Weg das Allerbeste zu wünschen. Über Brendan Faser werden wir eines Tages reden, wie wir – ja ich weiß, das habt ihr jetzt kommen sehen – über Heath Ledger reden. Damals war ich nicht dabei. Aber gestern Nacht.

Keine Filmkritik für den besten – Florian Zellers ‘The Son’

Ich bin alles andere als sicher, ob ich überhaupt versuchen sollte, so etwas wie eine ‚Besprechung‘ über Florian Zellers ‚The Son‘ zu schreiben, ob das auch nur ansatzweise möglich ist, ohne über mich selbst auszusabbeln, was in solche Besprechung nicht gehört (ja, ich weiß, das mache ich immer, aber hier geht’s nicht um meine Ohnmachtsanfälle in Fellini-Filmen und auch nicht um den Inhalt von Nähkästchen, was immer das sein soll). Darf es für diesmal bitte genügen, zu erklären, dass es der bisher beste Film des Festivals für uns war? Dass wir anschließend auf keine Party mehr gekonnt hätten, sondern direkt nach Hause mussten, um miteinander still zu sein? Dass Florian Zeller sein Meisterwerk ‚The Father‘ hier noch um Längen übertrifft? Dass Hugh Jackman, Laura Dern und Vanessa Kirby sich die Seelen aus den Leibern spielen, dass Anthony Hopkins‘ Cameo hassenswert genial ist und dass der junge Zen McGrath sie alle in den Schatten stellt?

Genügt nicht?

Also schön. Dann hab ich noch eines:

Ich bin keiner, der ‚Messages‘ in Filmen in hohen Ehren hält. Wenn ein Film wie ein Zeuge Jehovas daherkommt und mir einen Wachturm schenken will, hat er schon verloren, und Florian Zeller tut alles andere als das. Nicht trotzdem, sondern deshalb wünschte ich, dass seinen Film alle Eltern sehen. Alle, alle Eltern. Dass wir uns erinnern lassen, wie kostbar und wie zerbrechlich unsere Kinder sind. Dass wir uns künftig eher an Bären und Elefanten orientieren, wenn wir sie aufziehen, als an unseren eigenen Eltern und denen um uns herum, die immer alles wissen. Dass wir uns sehr, sehr lieben. Und dass die Eltern von Gabriel Wege finden, um zu leben, wer und wo immer er sein mag.

Zweite Headline Gala – Vier Sterne für Oliver Hermanus’ ‘Living’

Oh my God. Gestern noch habe ich mich höchst arrogant über den grassierenden Promi-Crash der Leute mokiert, und heute falle ich um ein Haar in Ohnmacht, als Kazuo Ishiguro die Bühne betritt (Nein, ich gestehe nicht öffentlich ein, dass ich 1984 tatsächlich in Ohnmacht fiel, als Fellini zur Premiere von ‚E la nave va‘auftauchte. Erstens – ich war sehr jung. Zweitens – hier geht’s nicht um meine In-Ohnmacht-Fallerei). Love that guy. Und dann kam Bill Nighy und stahl mit aus dem Ärmel geschüttelten Charme die Show. Die beste Einführung seit ‚Another Round‘ (und die war aufgrund von Covid-Beschränkungen vorab gefilmt) und ein würdiger Auftakt für einen der Filme, auf die ich mich innerhalb des Festival-Programms am meisten gefreut habe.

War ich enttäuscht? 

Aber nicht doch – wie könnte ich?

‚Living‘ ist der Film mit der besten ungeschriebenen Zeile aller Zeiten. Die Zeile lautet ‚I want to be reluctant‘ – ‚Ich will mich sträuben‘, und als ich sie durch die voll besetzte Festival Hall hallen hörte, ohne dass sie auch nur ausgesprochen wurde (that’s my guy Ishiguro …), hat es mir den Atem verschlagen. Das ist im Grunde alles, was wir zu lernen haben: Wenn sie kommen, um mich zu holen – will ich mich sträuben. Und ein solches Juwel präsentiert Oliver Hermanus mit der charmanten Leichtigkeit seines überbordend nostalgischen, herzwärmend schrulligen Films. Natürlich ist er nicht ‚Ikiru‘, der meiner Ansicht nach Kurosawas japanischster Film überhaupt ist. Er musste übertragen und deshalb ein wenig verdünnt werden, und das Ergebnis ist ein poetisches Liebeswerk voll zärtlichem Humor, göttlichen Bildern von London und melodischer, einlullender Musik. (Auch wenn ich zugeben muss, dass es nicht gerade von Courage zeugt, das Remake eines Films von 1952 wiederum in den Fünfzigern spielen zu lassen.) 

Ganz zu schweigen von den großartigen Schauspielern: Bill Nighy ist oscarreif, und er und Aimee Lou Wood sind wie gemacht füreinander. Ich werde nie wieder mit meinen Enkeln an einer Krallenmaschine mein Glück versuchen können, ohne – nein, nicht kurz vor der Ohnmacht zu stehen, aber definitiv an Tränen zu schlucken. Alex Sharps berührende Nebenrolle gefiel mir ebenfalls sehr, und im gesamten Ensemble gab es noch etliche höchst glückliche Besetzungen.

Und warum ziehe ich dann einen Stern ab?

Weil ich mich nicht ausgerechnet in einem Film, den Kazuo Ishiguro schrieb, daran erinnern will, dass ich als Script Doctor arbeite. In meinen Script-Doctor-Augen begeht dieser zaubrische Film aber leider einen einzigen bedauernswerten Fehler: Er liefert seine eigene Gebrauchsanweisung. Die letzten zehn Minuten sind nicht nur unnötig, sondern ärgerlich. Wir brauchen keine Erklärung, wie wir den Film zu nehmen haben – er ist ja kein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, hat keine gefährlichen Nebenwirkungen (von Ohnmachtsanfällen wegen seines Drehbuchautors abgesehen) und hilft so oder so nicht gegen Covid19. Mein – vermessener – Rat an Oliver Hermanus lautet somit: Vertrauen Sie Ihrem Film. Vertrauen Sie uns. Schneiden Sie das Ende – bis auf das dem Original entsprechende Schlussbild – heraus. ‚Living‘ (und ebenso ‚Ikiru‘) ist ja kein Film über das, was von uns bleibt, sondern über unsere Vergänglichkeit. Der Versuch, ihn bleiben zu lassen, ist somit reichlich kontraproduktiv. Er braucht nicht zu bleiben. Wir brauchen nicht zu bleiben. Alles, was wir tun müssen, wenn sie kommen, um uns zu holen, ist – uns zu sträuben.

‘Nanny’ und ‘Causeway’ – Double bill mit zwei Debüts

Als „verblüffend selbstsichere“ Debüts wurden uns die beiden Filme, die wir für diesen Tag ausgesucht hatten, angekündigt:  das Horror-Drama ‚Nanny‘, erstes Full Length Feature der amerikanischen Regisseurin Nikyatu Jusu, und das psychologische Drama ‚Causeway‘ der bisher ausschließlich aus der Theaterarbeit bekannten New Yorkerin Lila Neugebauer.

Beiden Filmen gemeinsam ist, dass sie sich hervorragend ansehen lassen, sich durch Schönheit auszeichnen, Talent verraten und mit grandiosen schauspielerischen Leistungen aufwarten. „Verblüffend selbstsicher“ fanden wir jedoch nur einen von ihnen.

Nikyatu Jusu in ‚Nanny‘ ist hoch anzurechnen, dass sie mit ihrer Geschichte einer senegalesischen Immigrantin in Manhattan Klischees, Kitsch und Schwarzweißmalerei weitgehend vermeidet. Die Verwendung von Motiven des Horrorgenres und mythologischen Elementen rührt an so grandios geglückte Filmwerke wie ‚Get Out‘ und ‚His House‘ und gefiel als Grundgedanke sehr. Leider bleiben diese Elemente jedoch Staffage, sind zu oberflächlich behandelt und erzeugen nicht die erwartete Tiefe. Die partiell schönen, eindringlichen Teile des Films fügen sich nicht zu einem organischen Ganzen, und die Geschichte weist störende Inkonsistenzen und auch bei der Gestaltung der Figuren unglaubwürdige Widersprüche auf. Die umwerfend schöne Anna Diop ist in der Hauptrolle eindrucksvoll und macht manches, aber eben nicht alles wett, und das Ende scheint allzu hastig und undurchdacht angeklebt. Wir gingen wohlwollend, aber nicht ganz befriedigt. Insgesamt ein vielversprechendes, aber kein komplett überzeugendes Debüt.

‚Verblüffend selbstsicher‘ und noch vieles mehr fanden wir hingegen Lila Neugebauer mit ihrem Film über eine hirnverletzte Afghanistan-Soldatin, die darum kämpft, sich im Zivilleben zurechtzufinden Die junge Regisseurin führt ihre beiden Superstars – Jennifer Lawrence und Brian Tyree Henry, die beide spielen, als ginge es ums Leben – mit einer Contenance und sicheren Hand, die es unfasslich scheinen lassen, dass dies ihr erster Film ist. Obwohl ‚Causeway‘ bestechend gut aussieht und dem Auge viel bietet, setzt Neugebauer ihre Mittel durchgehend sparsam und zurückhaltend ein, gibt nur das Nötigste und erreicht damit alles. Sie drängt dem Zuschauer nichts auf, wird nie laut, betätigt keinen emotionalen Schalthebel, sondern lässt uns allein mit ihrer minimalistisch erzählten Geschichte, der ich mich gerade deshalb von Anfang bis Ende nicht entziehen konnte. Hier weiß eine junge Filmemacherin ganz genau, was sie will und wie sie es erreicht. Ein echtes Talent, von dem man den nächsten Film nicht erwarten kann. Bring it on, Lila!