Zweite Headline Gala – Vier Sterne für Oliver Hermanus’ ‘Living’

Oh my God. Gestern noch habe ich mich höchst arrogant über den grassierenden Promi-Crash der Leute mokiert, und heute falle ich um ein Haar in Ohnmacht, als Kazuo Ishiguro die Bühne betritt (Nein, ich gestehe nicht öffentlich ein, dass ich 1984 tatsächlich in Ohnmacht fiel, als Fellini zur Premiere von ‚E la nave va‘auftauchte. Erstens – ich war sehr jung. Zweitens – hier geht’s nicht um meine In-Ohnmacht-Fallerei). Love that guy. Und dann kam Bill Nighy und stahl mit aus dem Ärmel geschüttelten Charme die Show. Die beste Einführung seit ‚Another Round‘ (und die war aufgrund von Covid-Beschränkungen vorab gefilmt) und ein würdiger Auftakt für einen der Filme, auf die ich mich innerhalb des Festival-Programms am meisten gefreut habe.

War ich enttäuscht? 

Aber nicht doch – wie könnte ich?

‚Living‘ ist der Film mit der besten ungeschriebenen Zeile aller Zeiten. Die Zeile lautet ‚I want to be reluctant‘ – ‚Ich will mich sträuben‘, und als ich sie durch die voll besetzte Festival Hall hallen hörte, ohne dass sie auch nur ausgesprochen wurde (that’s my guy Ishiguro …), hat es mir den Atem verschlagen. Das ist im Grunde alles, was wir zu lernen haben: Wenn sie kommen, um mich zu holen – will ich mich sträuben. Und ein solches Juwel präsentiert Oliver Hermanus mit der charmanten Leichtigkeit seines überbordend nostalgischen, herzwärmend schrulligen Films. Natürlich ist er nicht ‚Ikiru‘, der meiner Ansicht nach Kurosawas japanischster Film überhaupt ist. Er musste übertragen und deshalb ein wenig verdünnt werden, und das Ergebnis ist ein poetisches Liebeswerk voll zärtlichem Humor, göttlichen Bildern von London und melodischer, einlullender Musik. (Auch wenn ich zugeben muss, dass es nicht gerade von Courage zeugt, das Remake eines Films von 1952 wiederum in den Fünfzigern spielen zu lassen.) 

Ganz zu schweigen von den großartigen Schauspielern: Bill Nighy ist oscarreif, und er und Aimee Lou Wood sind wie gemacht füreinander. Ich werde nie wieder mit meinen Enkeln an einer Krallenmaschine mein Glück versuchen können, ohne – nein, nicht kurz vor der Ohnmacht zu stehen, aber definitiv an Tränen zu schlucken. Alex Sharps berührende Nebenrolle gefiel mir ebenfalls sehr, und im gesamten Ensemble gab es noch etliche höchst glückliche Besetzungen.

Und warum ziehe ich dann einen Stern ab?

Weil ich mich nicht ausgerechnet in einem Film, den Kazuo Ishiguro schrieb, daran erinnern will, dass ich als Script Doctor arbeite. In meinen Script-Doctor-Augen begeht dieser zaubrische Film aber leider einen einzigen bedauernswerten Fehler: Er liefert seine eigene Gebrauchsanweisung. Die letzten zehn Minuten sind nicht nur unnötig, sondern ärgerlich. Wir brauchen keine Erklärung, wie wir den Film zu nehmen haben – er ist ja kein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, hat keine gefährlichen Nebenwirkungen (von Ohnmachtsanfällen wegen seines Drehbuchautors abgesehen) und hilft so oder so nicht gegen Covid19. Mein – vermessener – Rat an Oliver Hermanus lautet somit: Vertrauen Sie Ihrem Film. Vertrauen Sie uns. Schneiden Sie das Ende – bis auf das dem Original entsprechende Schlussbild – heraus. ‚Living‘ (und ebenso ‚Ikiru‘) ist ja kein Film über das, was von uns bleibt, sondern über unsere Vergänglichkeit. Der Versuch, ihn bleiben zu lassen, ist somit reichlich kontraproduktiv. Er braucht nicht zu bleiben. Wir brauchen nicht zu bleiben. Alles, was wir tun müssen, wenn sie kommen, um uns zu holen, ist – uns zu sträuben.