Das große Finale – out with a bang!

Und dann ist auf einmal alles vorbei, die Lichter werden gedämmt und der Buzz versandet. Aber eine derart vor Leben platzende Kreatur wie das London Film Festival 2022 legt sich nicht einfach so schlafen, ohne ein letztes Mal alles zu geben und ganz groß auf die Pauke zu hauen.

Out with a bang. With a big one.

Zur Closing Gala sind sie noch einmal alle da – von dem genialen Brian Johnson zu Trisha Tuttle, der wir schon jetzt hinterher weinen, von James Bond zu Dave ‚Drax‘ Bautista, der wirklich und wahrhaftig zwei Reihen vor mir saß. (Mann, Kerl, ich bin eine alte Dame. Hätte glatt einen Herzinfarkt bekommen können …)

Was sie uns mitgebracht haben, macht uns endgültig zu Never-Forgetters:

Eine Glitzerzwiebel mit mehr als sieben Häuten – ‚Glass Onion‘. 

Die perfekte Wahl.

Nein, ich werde nicht einmal versuchen, objektiv zu bleiben. Das einzig nicht wundervolle an ‚Glass Onion‘ ist, dass er jetzt vorbei ist, dass es eine Ewigkeit dauert, bis ich ihn wiedersehen kann, und dass es nie, nie, nie mehr so sein wird, wie es gestern war.

So showy, so glitzy, so zwiebelhaft vielschichtig, so clever, so witzig, so wundervoll boshaft, so schwarz, so bunt, so geschliffen, so explosiv, so – was soll ich denn noch sagen?

Ist er so gut wie ‚Knives Out‘?

Falls jemand mich fragt, ist er sogar noch besser, aber vergesst nicht: Ich bin nicht objektiv.

Er war ja kein Film, sondern unser Abschiedslied, mit dem zwölf Tage im Paradies uns hinterherwinkten. 

Das nahezu komplette Ensemble aus grandios begabten Menschen am Ende noch einmal zu sehen, wie sie kicherten, witzelten und flirteten, als wäre ein Freundeskreis aus Studententagen versammelt, war nicht nur eine zärtliche Zugabe, sondern zeigte auf, wozu Leute in der Lage sind, wenn sie an einer derart glücklichen Kooperation teilhaben. ‚Glass Onion‘ ist Spaß, ‚Glass Onion‘ ist Kino, ‚Glass Onion‘ ist Kunst und Quatsch und Leben.

Wenn ihr es noch nicht gesehen habt, freut euch auf etwas, das euch in diesem kalten Winter warmmachen wird.

Ich beneide euch.

Danke, LFF 2022.

Das letzte, was mein Mann gestern Nacht noch zu mir sagte, war: „Ich sehe uns schon. Nächstes Jahr. Beim Programme Reveal.“

Es war das einzige, was es zu sagen gab.

Kurz vor Toresschluss: ‘Pinocchio’ und ‘Till’ – ein betörender Alptraum. Und ein Problem.

Als Kind hatte ich Angst vor ‚Pinocchio‘. Szenen daraus schienen geradewegs meinen Albträumen zu entstammen, und ein gewisses Gefühl von Beklommenheit bleibt mir bis heute. Außerdem war da noch Guillermo del Toros ‚Shape of Water‘, von dem mir weit mehr als nur Beklommenheit bleibt. Der Film ist mir von Herzen zuwider, und umso überraschter war ich von ‚Nightmare Alley‘, in den ich mich sofort verliebte.

Aber trotzdem oder deshalb  – Nightmare bleibt Nightmare …

Ich fand, ich hätte eine ganze Reihe guter Gründe, mich vor del Toros ‚Pinocchio‘ zu fürchten, und ich behielt recht. Er entstammt definitiv meinen Albträumen. Den Albträumen unserer Epoche. Und er ist ein wundervoller Film.

Vielleicht waren die Dialoge und Sprecher nicht sonderlich gut, wie meine Begleiter anmerkten. Wenn ja, dann habe ich davon nichts bemerkt, weil ich visuell überwältigt war. Ich kann nur eine Handvoll Animation Films nennen, die ich so komplett, so atemberaubend und so einzigartig in ihrer Vision fand wie diesen: Das großartige ‚Snow White‘ fällt mir ein, ‚The Hunchback of Notre Dame‘ und ein bisschen weniger augenfällig auch ‚Encanto‘. Keiner von ihnen ähnelt jedoch diesem. Überhaupt keiner ähnelt diesem, er ist ganz und gar er selbst und aus meiner Sicht eine ungewöhnlich angemessene und verblüffend couragierte Interpretation von Collodis Erzählung.

Was del Toro hier in einem Familienfilm aufs Korn nimmt, habe ich nie zuvor in eine Animation Film gesehen (ich bitte anzuerkennen: gebe mir gerade große Mühe, Spoiler zu vermeiden …). Und er trifft ins Schwarze. Es ruft eine Flut von Bildern wach – Bilder, die Albträumen und solchen, die der Realität entstammen, und zwischen beiden gibt es keinen Unterschied. Als der Film zu Ende war, war ich sofort entschlossen, ihn meinen Enkeln zu zeigen. Weil er so schön ist, weil er solchen Spaß macht und weil es das ist, was wir zusammen zu tun lieben: Verträumte Nachmittage vor traumhaften Filmen zu verbringen. Ebenso aber weil er ihnen auf verkraftbare Weise einen Alptraum zeigen wird, den wir alle auch weiterhin haben müssen. Weil er gerade wieder Realität werden will. Und weil er nichts lieber möchte, als dass wir ihn vergessen. 

Guillermo del Toro, der diesen Film seinen Eltern widmet, vergisst nicht, und auch dafür bedanke ich mich. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten scheint er doch noch ganz und gar ‚mein‘ Regisseur zu werden. Ein bisschen wie die Songs in seinem Film. Von jedem einzelnen dachte ich anfangs: Ach nein, das ist nichts für mich … nur um ein paar Takte später zu beginnen, mich wie Pinocchio zu wiegen. Und unhörbar zu summen.

Gleich anschließend sahen wir ‚Till‘ der amerikanischen-nigerianischen Regisseurin Chinonye Chukwu, und meinen Kommentar dazu halte ich kurz:

Der Film und ich kamen nicht zusammen, und ich fühle mich deswegen schlecht. Es scheint mir nicht richtig, als weiße, privilegierte alte Frau ein Urteil darüber abzugeben, wie eine junge schwarze Regisseurin einen Film über diese Ereignisse machen sollte. 

Ich war von den – aus meiner Sicht – komplett ‚weißen‘, Hollywood-haften and leicht trivialen Mitteln, derer der Film sich bedient, enttäuscht (ganz besonders von der sentimentalen Musik, die ich kaum weniger unerträglich fand als ‚Vom Winde verweht‘). Enttäuscht war ich auch von der – aus meiner Sicht – zu linearen, komplett vorhersehbaren Erzählweise, die auf sämtliche emotionale Knöpfe drückte, und wäre es der Fiim eines weißen Regisseurs gewesen, hätte ich ihn als Oscar-Fänger abgetan.

Aber das ist er nun einmal nicht.

Und wie eine schwarze Regisseurin von diesen Ereignissen erzählt, entscheidet sie. Nicht ich und meinesgleichen.

Es ist gut, dass es diesen Film gibt, und wenn er den Oscar bekommt, ist es auch gut und ein wichtiges Zeichen. 

Danielle Deadwyler ist darüber hinaus großartig und verdient, was immer sie bekommt.

Und ich wünsche mir wirklich, ich hätte den Film mögen können. Ich hoffe, unzählige Menschen mögen ihn und finden mich doof.

Zweite Headline Gala – Vier Sterne für Oliver Hermanus’ ‘Living’

Oh my God. Gestern noch habe ich mich höchst arrogant über den grassierenden Promi-Crash der Leute mokiert, und heute falle ich um ein Haar in Ohnmacht, als Kazuo Ishiguro die Bühne betritt (Nein, ich gestehe nicht öffentlich ein, dass ich 1984 tatsächlich in Ohnmacht fiel, als Fellini zur Premiere von ‚E la nave va‘auftauchte. Erstens – ich war sehr jung. Zweitens – hier geht’s nicht um meine In-Ohnmacht-Fallerei). Love that guy. Und dann kam Bill Nighy und stahl mit aus dem Ärmel geschüttelten Charme die Show. Die beste Einführung seit ‚Another Round‘ (und die war aufgrund von Covid-Beschränkungen vorab gefilmt) und ein würdiger Auftakt für einen der Filme, auf die ich mich innerhalb des Festival-Programms am meisten gefreut habe.

War ich enttäuscht? 

Aber nicht doch – wie könnte ich?

‚Living‘ ist der Film mit der besten ungeschriebenen Zeile aller Zeiten. Die Zeile lautet ‚I want to be reluctant‘ – ‚Ich will mich sträuben‘, und als ich sie durch die voll besetzte Festival Hall hallen hörte, ohne dass sie auch nur ausgesprochen wurde (that’s my guy Ishiguro …), hat es mir den Atem verschlagen. Das ist im Grunde alles, was wir zu lernen haben: Wenn sie kommen, um mich zu holen – will ich mich sträuben. Und ein solches Juwel präsentiert Oliver Hermanus mit der charmanten Leichtigkeit seines überbordend nostalgischen, herzwärmend schrulligen Films. Natürlich ist er nicht ‚Ikiru‘, der meiner Ansicht nach Kurosawas japanischster Film überhaupt ist. Er musste übertragen und deshalb ein wenig verdünnt werden, und das Ergebnis ist ein poetisches Liebeswerk voll zärtlichem Humor, göttlichen Bildern von London und melodischer, einlullender Musik. (Auch wenn ich zugeben muss, dass es nicht gerade von Courage zeugt, das Remake eines Films von 1952 wiederum in den Fünfzigern spielen zu lassen.) 

Ganz zu schweigen von den großartigen Schauspielern: Bill Nighy ist oscarreif, und er und Aimee Lou Wood sind wie gemacht füreinander. Ich werde nie wieder mit meinen Enkeln an einer Krallenmaschine mein Glück versuchen können, ohne – nein, nicht kurz vor der Ohnmacht zu stehen, aber definitiv an Tränen zu schlucken. Alex Sharps berührende Nebenrolle gefiel mir ebenfalls sehr, und im gesamten Ensemble gab es noch etliche höchst glückliche Besetzungen.

Und warum ziehe ich dann einen Stern ab?

Weil ich mich nicht ausgerechnet in einem Film, den Kazuo Ishiguro schrieb, daran erinnern will, dass ich als Script Doctor arbeite. In meinen Script-Doctor-Augen begeht dieser zaubrische Film aber leider einen einzigen bedauernswerten Fehler: Er liefert seine eigene Gebrauchsanweisung. Die letzten zehn Minuten sind nicht nur unnötig, sondern ärgerlich. Wir brauchen keine Erklärung, wie wir den Film zu nehmen haben – er ist ja kein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, hat keine gefährlichen Nebenwirkungen (von Ohnmachtsanfällen wegen seines Drehbuchautors abgesehen) und hilft so oder so nicht gegen Covid19. Mein – vermessener – Rat an Oliver Hermanus lautet somit: Vertrauen Sie Ihrem Film. Vertrauen Sie uns. Schneiden Sie das Ende – bis auf das dem Original entsprechende Schlussbild – heraus. ‚Living‘ (und ebenso ‚Ikiru‘) ist ja kein Film über das, was von uns bleibt, sondern über unsere Vergänglichkeit. Der Versuch, ihn bleiben zu lassen, ist somit reichlich kontraproduktiv. Er braucht nicht zu bleiben. Wir brauchen nicht zu bleiben. Alles, was wir tun müssen, wenn sie kommen, um uns zu holen, ist – uns zu sträuben.