Kurz vor Toresschluss: ‘Pinocchio’ und ‘Till’ – ein betörender Alptraum. Und ein Problem.

Als Kind hatte ich Angst vor ‚Pinocchio‘. Szenen daraus schienen geradewegs meinen Albträumen zu entstammen, und ein gewisses Gefühl von Beklommenheit bleibt mir bis heute. Außerdem war da noch Guillermo del Toros ‚Shape of Water‘, von dem mir weit mehr als nur Beklommenheit bleibt. Der Film ist mir von Herzen zuwider, und umso überraschter war ich von ‚Nightmare Alley‘, in den ich mich sofort verliebte.

Aber trotzdem oder deshalb  – Nightmare bleibt Nightmare …

Ich fand, ich hätte eine ganze Reihe guter Gründe, mich vor del Toros ‚Pinocchio‘ zu fürchten, und ich behielt recht. Er entstammt definitiv meinen Albträumen. Den Albträumen unserer Epoche. Und er ist ein wundervoller Film.

Vielleicht waren die Dialoge und Sprecher nicht sonderlich gut, wie meine Begleiter anmerkten. Wenn ja, dann habe ich davon nichts bemerkt, weil ich visuell überwältigt war. Ich kann nur eine Handvoll Animation Films nennen, die ich so komplett, so atemberaubend und so einzigartig in ihrer Vision fand wie diesen: Das großartige ‚Snow White‘ fällt mir ein, ‚The Hunchback of Notre Dame‘ und ein bisschen weniger augenfällig auch ‚Encanto‘. Keiner von ihnen ähnelt jedoch diesem. Überhaupt keiner ähnelt diesem, er ist ganz und gar er selbst und aus meiner Sicht eine ungewöhnlich angemessene und verblüffend couragierte Interpretation von Collodis Erzählung.

Was del Toro hier in einem Familienfilm aufs Korn nimmt, habe ich nie zuvor in eine Animation Film gesehen (ich bitte anzuerkennen: gebe mir gerade große Mühe, Spoiler zu vermeiden …). Und er trifft ins Schwarze. Es ruft eine Flut von Bildern wach – Bilder, die Albträumen und solchen, die der Realität entstammen, und zwischen beiden gibt es keinen Unterschied. Als der Film zu Ende war, war ich sofort entschlossen, ihn meinen Enkeln zu zeigen. Weil er so schön ist, weil er solchen Spaß macht und weil es das ist, was wir zusammen zu tun lieben: Verträumte Nachmittage vor traumhaften Filmen zu verbringen. Ebenso aber weil er ihnen auf verkraftbare Weise einen Alptraum zeigen wird, den wir alle auch weiterhin haben müssen. Weil er gerade wieder Realität werden will. Und weil er nichts lieber möchte, als dass wir ihn vergessen. 

Guillermo del Toro, der diesen Film seinen Eltern widmet, vergisst nicht, und auch dafür bedanke ich mich. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten scheint er doch noch ganz und gar ‚mein‘ Regisseur zu werden. Ein bisschen wie die Songs in seinem Film. Von jedem einzelnen dachte ich anfangs: Ach nein, das ist nichts für mich … nur um ein paar Takte später zu beginnen, mich wie Pinocchio zu wiegen. Und unhörbar zu summen.

Gleich anschließend sahen wir ‚Till‘ der amerikanischen-nigerianischen Regisseurin Chinonye Chukwu, und meinen Kommentar dazu halte ich kurz:

Der Film und ich kamen nicht zusammen, und ich fühle mich deswegen schlecht. Es scheint mir nicht richtig, als weiße, privilegierte alte Frau ein Urteil darüber abzugeben, wie eine junge schwarze Regisseurin einen Film über diese Ereignisse machen sollte. 

Ich war von den – aus meiner Sicht – komplett ‚weißen‘, Hollywood-haften and leicht trivialen Mitteln, derer der Film sich bedient, enttäuscht (ganz besonders von der sentimentalen Musik, die ich kaum weniger unerträglich fand als ‚Vom Winde verweht‘). Enttäuscht war ich auch von der – aus meiner Sicht – zu linearen, komplett vorhersehbaren Erzählweise, die auf sämtliche emotionale Knöpfe drückte, und wäre es der Fiim eines weißen Regisseurs gewesen, hätte ich ihn als Oscar-Fänger abgetan.

Aber das ist er nun einmal nicht.

Und wie eine schwarze Regisseurin von diesen Ereignissen erzählt, entscheidet sie. Nicht ich und meinesgleichen.

Es ist gut, dass es diesen Film gibt, und wenn er den Oscar bekommt, ist es auch gut und ein wichtiges Zeichen. 

Danielle Deadwyler ist darüber hinaus großartig und verdient, was immer sie bekommt.

Und ich wünsche mir wirklich, ich hätte den Film mögen können. Ich hoffe, unzählige Menschen mögen ihn und finden mich doof.