Meisterwerk mit verschwiegenem Titel

 Ich weiss, ich habe das schon ungefähr eine Million mal erzählt. Ich hab’s so oft erzählt, dass ich inzwischen nicht mehr ganz sicher bin, ob es überhaupt wahr ist – but anyway: Als Studentin hat mir mal ein Professor erklärt, dass wir Geschichten brauchen, weil die besten von ihnen jungen Menschen beim Leben helfen – und alten beim Sterben.

Ich hatte so viele von der ersten Sorte, ich muss im Leben inzwischen Weltmeister sein.

Seit geraumer Zeit bin ich allerdings auf der Suche nach der zweiten, die bei Weitem seltener zu sein scheint.
Voila. Eureka. Here we go.
Es kommt mir nicht nur so vor, als wäre dieser Film bereit, mir zu helfen. Sondern als wäre er bereit, bei mir zu bleiben und mir bis zum Ende die Hand zu halten. (Filme, die Hände halten? Ja, okay, das Festival-Flair ist mir zu Kopf gestiegen, aber wen kratzt’s.) Er macht mir nichts vor, also ist er hart und scharf, präzise und schmerzlich. Aber er ist so unglaublich schön und hat kommt mit so einem schönen Hund daher, dass ich irgendwann denke: Also gut, wenn sich’s nicht vermeiden lässt, nehm’ ich das Ding eben hin.
Wenn der Tod ein altes Hotel ist, voller Geister und verschwindender Erinnerungen, wenn der Tod ein freundlicher Hund ist, der durch die Nacht heult, ein knarrendes Fenster und die Stimme meines Kindes in der Ferne, wenn der Tod ein zu kleines Glas Champagner ist und wenn Tilda Swinton ihn spielt – also gut, wenn sich’s nicht vermeiden lässt, nehm ich das Ding eben hin. Aber lass es gefälligst so langsam und sachte und spukhaft daherkommen wie inszeniert von Joanna Hogg.
Ich habe zweifellos auch schon eine Million mal erzählt, dass ich Filmregisseur werden wollte, als ich jung war (und daher süchtig nach Filmen über das Filmemachen bin). Ich wollte diejenige sein, die in einem verwunschenen Dachboden am Fenster sitzt und versucht, einen Film über das Unfilmbare zu schreiben, und die unzähligen grossen Filme, die ich seither gesehen habe, haben mir einer nach dem anderen erklärt: Na komm. Sei froh, dass du’s nicht gemacht hast, denn du hättest es nicht gekonnt.
Dieser hier schafft noch mehr. Er säuselt: Wenn du es doch nur versucht hättest. Selbst wenn du gescheitert wärst, hättest du jetzt die verbleichende Erinnerung an einen Traum, die bis zum Ende leise für dich singt. Dein eigenes Gespenst.

Das ist ziemlich zauberhaft. Das ist es wirklich.

Okay. Zu den Fakten. Oder zu dem, was ich so Fakten nenne: Ich halte diesen Film für ein Meisterwerk. Er ist zweifellos der perfekteste, gekonnteste, geschliffenste des – ohnehin grossartigen – Souvenir-Terzetts der unverschämt begabten Joanna Hogg. Um dem zu entsprechen, haben wir Tilda Swinton, über die ich kein einziges Wort sagen kann, das ihr gerecht würde. Ihre Doppel-Identität fügt den Schichten und Dimensionen von Hoggs Erzählkunst noch einmal so viele Schichten und Dimensionen hinzu, dass ich von der ersten Szene an wusste, ich werde den Film noch viele Male sehen müssen. (Wobei es natürlich hilft, ein bisschen gesichtsblind zu sein, weil man so allmählich in diesen grandiosen Das-kann-sie-doch-nicht-wirklich-gemacht-haben-Effekt hineinrutscht.) Ich kann nur jedem empfehlen: Seht euch das leise, erstaunliche Spektakel dieser schauspielerischen Leistung an. Es ist eine solche Freude, eine solche Verblüffung, selbst wenn der Film nicht wie bei mir ins Schwarze trifft. Es ist sogar witzig. Mich begeistert jedes Mal aufs Neue, wenn etwas mich zum Heulen bringt, weil es so gut ist. Und noch mehr begeistert mich, wenn etwas mich aus demselben Grund zum Lachen bringt.
(Unnötig zu erwähnen, dass Tilda Swinton locker beides geschafft hat.)
Es ist ein Film über Erinnerungen, und er hat in meinen – willkommen, bienvenue, welcome – nun seinen Platz. Er ist einer von denen, die mir das Gefühl geben, steinreich zu sein, und er wird einer meiner Festival-Favoriten bleiben. Trotzdem ziehe ich einen halben Stern ab, und zwar für den idiotischen Titel. Der geht gar nicht. Ich finde ihn dermassen schlecht, dermassen mäuschenhaft, dermassen weiblich hach-ich-trau-mich-nicht-einzugestehen-wie-gut-ich-bin, dass ich den Film nicht einmal auf die Liste meiner Festival-Must-Haves gesetzt hätte, hätte mein Sohn, dessen Empfehlungen unfehlbar sind, nicht darauf bestanden. Diesen Film hat keine ewige Tochter gemacht, und er handelt auch nicht von einer. Es ist der Film einer brillanten Filmemacherin über eine brillante Filmemacherin. Joanna and Julie – I love you.

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Erste Headline Gala – Noah Baumbachs ‘White Noise’

Fragt jemand mich, dann ist Noah Baumbach einer der poetischsten Regisseure, die wir derzeit haben. Ich war verzaubert von ‘The Squid and the Whale’ und ‘Meyerowitz Stories’ und dementsprechend enttäuscht, als ich mich für seine letzte Netflix-Produktion, die hochgelobte ‘Marriage Story’ nicht so richtig erwärmen konnte. Also ging ich in diesen, seinen neuesten Film mit beidem – hohen Erwartungen und leiser Angst – und eigentümlicherweise fand ich beide erfüllt.
First things first: Baumbach ist ein wundervoller Regisseur, und was immer ihn dazu getrieben hat, sich dieses Romans, der allgemein als unverfilmbar gilt, anzunehmen, bin ich sicher, dass er bewundernswerte Arbeit geleistet hat. Zum zweiten: Ich weiss noch, wie sehr ich gefürchtet habe, Adam Driver könnte für seine Leistung in ‘Marriage Story’ den Oscar bekommen und damit den unvergleichlichen Joaquin Phoenix’ in ‘Joker’ aus dem Rennen schlagen. Sollte er ihn für diesen Film allerdings bekommen, hat er meinen unpäpstlichen Segen. Was für ein Feuerwerk! Der Kerl brennt, er spielt sich die Seele aus dem Leib und hätte, wäre es nötig gewesen, den ganzen Film tragen können. In diese Pflicht wurde er jedoch nicht genommen, denn in ‘White Noise’ gibt es keinen einzigen mittelmässigen Schauspieler. Filmisch enthält er eine Perle nach der anderen: Die Hitler-Elvis-Combo! Das Zugunglück! Und die absolute Krönung: Der Supermarkt, in dem Baumbach von mir aus gern noch eine weitere Stunde hätte drehen dürfen. Demzufolge wähle ich den in selbigen Supermarkt gesetzten Abspann zu den drittbesten Credits aller Zeiten (die besten und zweitbesten gehören unauslöschlich natürlich Taika Waititi mit “Boy” und “JoJo Rabbit”). Sie machten den Eindruck einer gigantischen Party für Statisten, und ich wünschte, ich wäre einer gewesen.

Ein guter Film, ohne Frage. Er ist schwarz, er ist witzig, er ist clever, er hat Biss, Geheimnis und Esprit.
So what’s not to love?
Ich habe viel gelacht, mir die Augen besoffen, der Buzz war hinreissend, der Film sprüht vor Einfällen, und die Dialoge liefern einen Cracker nach dem anderen – und trotzdem … als wir schliesslich aufbrachen, kam ich mir ein bisschen wie mit leeren Händen vor.
Der Grund dafür scheint einigermassen paradox: Ich ging mit leeren Händen, weil der Film zu voll war. Zu viele Elemente auf zu kleinem Raum, und letzten Endes fügten sie sich nicht zu einem Ganzen, wie ich es mir erhofft hatte. Wirklich beurteilen kann ich es nicht, da ich Don DeLillos Roman nicht gelesen habe, aber ich vermute, es liegt an dem ‘unverfilmbaren’ Buch. Womöglich haben wir es hier mit einem jener Fälle zu tun, in dem ein Regisseur liebevoll und mehr als ehrenhaft zu dicht an seiner Quelle blieb? Zu dicht für mein Empfinden, wohlgemerkt. Der Film mag mich nicht ganz erreicht haben, und die lächelnde Zärtlichkeit, mit der Baumbach sonst seine Figuren bedenkt, fehlte mir – aber ich kann es dennoch kaum erwarten, zu sehen, was er und das grandiose Team, das er um sich geschart hat, als nächstes aufbieten. Es ist eine Freude, so viel Talent vereint zu sehen, und es ist eine womöglich noch grössere Freude, wenn hochtalentierte Künstler ganz genau das tun, wofür sie brennen, nicht was ihnen Trophäen verspricht. Dazu braucht das Ergebnis nicht mein neuer Lieblingsfilm zu sein.
Tausend Dank für die zauberhafte Headline Gala, LFF. Joanna Hogg ist die nächste – ich kann’s kaum erwarten.

The Buzz is Back – London Film Festival 2022 Eröffnung mit ‘Les Passagers de la Nuit’

Monatelang habt ihr hier tapfer die Werbeeinblendungen und meine Rants über Geld durchgehalten. Zum Dank verspreche ich euch nun zwölf werbe- und geldfreie Tage – im Paradies.

London Film Festival 2022  welcome to heaven on earth.

Die Himmelspforte öffnete für uns Mikhaël Hers, Regisseur von ‚Passagers de la Nuit‘, und wenn ihr diesen zärtlichen Zauberfilm irgendwo erwischt, lasst ihn euch bitte nicht entgehen. Lebensklug, zerbrechlich, charmant auf jene Weise, die Sehnsucht nach Pariser Fensteraussichten unerträglich macht, und zum Niederknien schön gefilmt bietet er genau die Art von Trost und Ermutigung, die wir in diesen Tagen brauchen. Nicht: Alles wird gut, sondern: Das Leben geht weiter. Nicht: Wir schaffen das, sondern: Wir sind noch da.

Seltsam berührend war es für mich, Erinnerungen an meine eigene Jugend, an die am tiefsten prägenden und am tiefsten vergrabenen Momente aufblitzen zu sehen – filmisch erzählt von einem Mann, der zehn Jahre jünger ist als ich. Das ist eine Meisterschaft, zu der mir im Augenblick kein Vergleich einfällt, und verkörpert wird sie neben hochbegabten jungen Akteuren von einer Charlotte Gainsbourg, die zu einer beneidenswerten und schmerzlich seltenen Art gehört: Mit jedem Jahr, das verstreicht, wird ihre Schönheit intensiver, und die Trauer darum, dass das Fest unweigerlich enden muss, trägt sie offen im Gesicht. So wie der Film in jeder Szene. So wie wir im Herzen.

Standing Ovations und ein ausverkauftes Curzon Soho in Tränen. Besser geht’s nicht. Natürlich hatte der Film als unsere Festivaleröffnung einen Bonus – aber den hat diese Coming of age story for people of age überhaupt nicht gebraucht, sondern lächelnd durchgewinkt. So happy to be back with the buzz. Bis demnächst in diesem Theater – morgen früh mit Noah Baumbachs „White Noise“, für euch fast live aus der Royal Festival Hall.