Gestern hatte ich das unschätzbare Privileg, im Museum einen Workshop der Lyriker Jenny Lewis und Adnan al Sayegh zu erleben, die über mesopotamische Literatur sprachen. Seither sind überall in meinem Kopf kleine Steinschläge. Wir gingen dann noch hinüber in die Galerien, um uns Ashurbanipals Löwenjagd anzusehen, ich schaute eine gefühlte halbe Stunde lang einen Pfeil an, der aus dem Relief herausragte, Adnan al Sayegh las in zum Niederknien schönen Arabisch ein Gedicht vom Stehen in Malmö und Sich-Sehnen nach Mesopotamien, und das Leben war unverschämt reich und schön. Niedergekniet bin ich nicht, aber ich hatte in meiner engen Kehle einen enorm festen Klumpen.
Vermutlich einmalig in Zweitausendundvierzehn ist die Tatsache, dass ich den ganzen Abend durchgehalten habe, ohne ein einziges Mal nach innen ‚Ich bin müde‘ zu schreien. Warum ist eigentlich diese Felsspalte, die zwischen Arbeit, die man tun will, und Arbeit, die man tun muss, klafft, so unüberwindlich tief?
Müßige Frage, leider, denn natürlich habe ich auch an diesem Wochenende vergessen, einen Lottoschein zu kaufen. Mehr fasziniert mich, während mein Kopf die Bilder aus Urartu, die Bilder aus Mesopotamien, die Bilder aus dem Ausstellungskatalog ‚Entartete Kunst‘ zusammensetzt, warum da eine so tiefe Spalte klafft zwischen Romanen, die man schreiben will oder schreiben muss, und Romanen, die man einfach schreibt. Ohne zu wollen, ohne zu müssen, nur weil man der, der man ist, eben ist. Das klingt hübsch verquer, fühlt sich aber völlig geradeaus gedacht an. Mir wird glasklar, was den Unterschied zwischen Hatti und Ararat und all den anderen (die ich zum Teil mit glühender Leidenschaft schreiben wollte) ausmacht. Sie sind meine. Ich schreib sie einfach, auch wenn ich nicht schreibe, sondern durch die assyrischen Galerien spaziere und wundervolle arabische Gedichte anhöre, von denen ich kein Wort verstehe. Ich schreib sie einfach und hätte sie auch dann noch geschrieben, wenn ich meine Sprache nicht mehr verstünde oder keinen Bleistift und kein Papier mehr hätte (hab ich aber – das Museum hat mir gestern welches geschenkt, was ich kaum annehmen konnte, weil ich mir in diesem Museum sowieso immer vorkomme, als wäre ich dem Weihnachtsmann persönlich begegnet).
Ich kann mit Ararat durch die Gegend wandern und er kommt ganz allein in meinen Kopf. Swimathon mit den Kindern, laut durch die Messe lachen mit dem Enkel, steinhartes Flachbrot backen, Klaus Mann wiederlesen, armenische Lieder auf den i-Pod laden, abends Carcassonne spielen, sich über den Buchmarkt aufregen, stundenlang über Zivilisation schwätzen und sich nach Mesopotamien sehnen, das ist alles Ararat. Und das einzige Problem, das wir jetzt noch haben ist, dass auch überall da Ararat ist, wo er als einziges nicht hingehört: In meiner Arbeit …
Month: March 2014
The Swerve
Als ich gestern Nacht nach Hause kam, hat mich A, der nicht schlafen konnte, noch auf der Schwelle gefragt: Ist das der Tag, an dem das Jahr in die Wende geht?
Über das abergläubische Festklammern an Zeiteinheiten als „gut“ oder „böse“ sollten wir in unserem Alter hinaus sein, und für Himmelhochjauchzend-zu-Tode-betrübt fehlt uns in Zweitausendvierzehn die Kraft. Aber trotzdem. Ja, ich will das jetzt glauben, gestern, März siebenundzwanzig, war der Tag, an dem das Jahr in die Wende ging. Das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, habe ich nicht, denn ich musste gar nicht kämpfen. (Auch wenn es mich leicht schockiert hat, dass mir nicht nur die Hände, sondern sämtliche Gliedmaßen zitterten. In Dates mit dem schönen Geschlecht kenne ich mich bedeutend souveräner …) Es ging alles von allein. Du hast Glück, Hatti. Du hast ganz unverschämtes, gottverdammtes Glück, Dich betreut nämlich jemand, der Romane so gern mag wie Pferde und mit beidem ohne Zynismus umgeht. Zwar werden wir zwei in unserer Kraken-Umklammerung allmählich zum Treppenwitz, aber das steht und schmeckt uns. Und Du darfst jetzt das werden, was ich mir für Dich gewünscht habe: Nicht mehr als ein Ferner-liefen-Roman. Aber mein Ferner-liefen-Roman. Der beste, den ich (und die Carmen, ja ja) schreiben kann. (Psst, ein Cover hast Du auch schon, aber ich hab’s noch nicht gesehen, also kann ich’s Dir auch nicht beschreiben. Aber Du wirst lachen, Hatti. Ich hab überhaupt keine Angst.)
Und dann hab ich tatsächlich mich – MICH – wenn auch wie eine Hundertjährige schlotternd, sagen hören: „Ich werde diesen Roman schreiben.“ Ich habe ziemlich lange nichts mehr gesagt, das so gut getan hat. Und das Ergebnis? Wir hören jetzt mal auf, uns so aufzuregen. Wir hören jetzt mal auf, verzweifelt um uns zu schlagen. Wir verlagern unser Gewicht, geben am Zügel eine sachte Parade und lenken dieses Jahr in die Wende. Wir machen unsere Arbeit. Und dann schinden wir ein bisschen Zeit und schreiben diesen Roman.
Was für eine hinreißende Erfahrung – zitternd darauf zu warten, dass zur Antwort ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ kommt und ‚Warum denn nicht?‘ zu erhalten.
Über die andere gute Nachricht muss ich selbst hier, in meiner privaten Quasselecke, schweigen. Und das ist auch besser, die Nachricht ist nämlich so gut, dass sie mich abergläubisch macht. Also besser abwarten, bis ich sie schwarz auf weiß in den Fingern hab. Ich glaub, zum ersten Mal in Zweitausendundvierzehn habe ich fest geschlafen und kann ganz tief atmen. Das minimale Restzittern kommt nur von der Schieflage, vom Jahr, das sich in der Wende legt. In einer Woche fliegen wir nach Yerevan. Love you, Hatti. Love you, Ararat. Love you, Two-Thousand-Fourteen.
Day X
Heute ist der Tag, Ararat. Ich habe gestern im Museum Dein Exposé so sauber gemacht, wie ich konnte, und schaue es nachher noch einmal durch. Mehr kann ich nicht tun, und das macht mich gerade viel nervöser, als ich zu sein hoffte (vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich bis zum Abend ja noch irgendwie meine Arbeit wegschaffen muss).
Im Gedächtnis behalten möcht‘ ich aber auch, dass wir es sehr schön hatten, gestern. Und wenn man es so schön haben kann mit einem Roman, wenn man ihn wie als Siebzehnjährige an seinen Lieblingsort schleppt, um ihm in eine Kladde mit Rosetta-Stone-Muster in Erstklässler-Schrift zwölf Zeilen zu schreiben, dann scheint etwas daran richtig zu sein. Es ist schön mit Dir, Ararat. Das schönste daran ist, dass es sich so unzynisch anfühlt. So weit weg vom Buchmarkt. So nah bei uns. Ararat, born in the British Museum.
Außerdem haben wir gestern noch Fotos für Hattuša gemacht, die Carmen, die das Museum umarmt, was windig und amüsant war. Wir sind also, soweit das überhaupt möglich ist, bereit und müssen uns jetzt ein bisschen Mut machen. Wer einen Daumen frei hat, den bitten wir, ihn uns heute Abend zu drücken.
Charlie&Carmen, Hattuša&Ararat
Ende Kitsch, alles Kitsch?
Läge der Teufel im Detail, in der sprachlichen Gestaltung, wo ich ihn von je her suche, dann wäre es nicht so schwierig, ihn mit Stumpf und Stiel auszurupfen. Ich habe das jetzt bei der Twelfthnight gesehen: Die Substanz ist in Ordnung. Und stilistisch muss vor allem ausgedünnt werden, dafür könnte ich – wenn mir selbst die Fähigkeit fehlt – zur Not sogar einen Lektor nehmen. Damit habe ich nicht gesagt, eine Neigung zu stilistischen Kitsch-Entgleisungen sei unproblematisch. Das sehe ich nicht so, da ich das ja erlebe, dass meine Kitsch-Ergüsse die andere Seite einer sprachlichen Unfähigkeit ist: Dort, wo mir die Sprache splittert und entgleitet, weil ich ihr nicht gewachsen bin, muss der Kitschpott zum Überkleistern her. Das ist ein Problem und bleibt eines. Bei einem so fetten Buch wie Twelfthnight lässt es sich aber relativ leicht verringern, indem man jede Menge betroffene Szenen streicht oder erheblich verknappt, ohne dass in der Substanz etwas knirscht. Im Gegenteil.
Viel größer ist meine Angst, der Kitsch-Katalysator könnte tiefer sitzen – in der Dramaturgie. Und dass er da bei der Hatti sitzt, weiß ich, wenn ich ehrlich bin, selbst. Heute morgen beim Laufen war mir zum Haare-Ausreißen: Warum habe ich der Hatti dieses Ende geschrieben?
Ich mag solche Enden nicht. Ich habe mehreren meiner Bücher aus kommerziellen Gründen eins geschrieben, und dazu stehe ich. Materielle Zwänge sind materielle Zwänge, da lohnt kein Grübeln, nur Lottoscheinkaufen. Ich habe aber bei der Hatti gar nichts aus kommerziellen Gründen gemacht. Damit kann ich mich nicht rausreden. Ich kann auch nicht behaupten, ich hätte nicht gewusst, was ich da mache, denn dass man solchem Stoff kein solches Ende aufklatscht, habe ich eigentlich schon in Klassenstufe Elf gelernt (mindestens). Mit Kollegen diskutiert hab ich’s auch noch. Vom Aufschrei des medizinischen Berater-Teams ganz zu schweigen.
Mir ist das während des Wartens auf Nachrichten über den tragischen Flug MH 370 wiederum aufgefallen: Mit jedem Tag, der verstrich, versuchte man, mit der Himmelsmacht um ein schrumpfendes Stück Hoffnung zu feilschen: Lass das Flugzeug heil gefunden werden. Lass die Hälfte überlebt haben. Lass eine Arche mit zehn Überlebenden geborgen werden, mit fünf, mit dreien, mit einem einzigen! Dass am Ende der große schwarze Gong kommen würde, haben wir trotzdem gewusst.
Der geht nicht im Unterhaltungsroman. Und den möcht‘ ich im speziellen Fall auch nicht, den fände ich genauso falsch wie meine rosa Torte Moskau. Statt dieser zwei Extreme hat man – finde ich – zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt eine Hauptfigur auf einer zerfetzten Tragfläche lebend aus dem Wasser fischen – dann muss man aber im Finalbild die Katastrophe noch einmal zeigen („A Night to Remember“ ist dafür ein gelungenes Beispiel, finde ich). Oder man benutzt das ,Die Karawane zieht weiter‘-Schema, das ich schöner finde. Dann gibt’s nur eins: Hauptfigur opfern. Franz Werfel macht das. Es ist ganz und gar richtig, es ist diese Art Ende, vor dem wir: Nein, schreien wollen, das wir aber hinnehmen und ganz knapp aushalten und das deshalb bei uns bleibt, wenn wir den großen schwarzen Gong erfolgreich verdrängt und die rosa Torte Moskau längst vergessen haben.
Warum habe ich das also so nicht geschrieben? Wenn ich mir jetzt selbst ins Ohr blasen will: „Weil ich nicht Franz Werfel bin“, höre ich mir nicht zu, weil das eine platte (und überstrapazierte) Ausrede ist. Ich bin nicht Franz Werfel, aber ich habe gewusst, wie mein Roman zu Ende gehen muss, auch schon bevor ich ‚Musa Dagh‘ gelesen habe, und ich habe nicht einmal versucht, es so zu machen. Obwohl ich ‚Die Karawane zieht weiter‘ liebe. Und Torte Moskau eklig finde.
Soll ich mich jetzt in der Luft zerreißen? Davon hätte ich wenig. Besser ich fasse mir ein Herz und gebe mir die richtige Antwort: Ich habe das gemacht, weil ich nicht wollte, dass die Geschichte an der Stelle überhaupt zu Ende ist.
Na bitte. So schwer war’s gar nicht, oder? Schön finde ich das nicht. Aber vertretbar, wenn ich mich jetzt nicht um das drücke, was es in Konsequenz bedeutet. Ich muss die Geschichte zu Ende erzählen. Richtig zu Ende. Die Karawane zieht weiter.
Dass damit mein Roman kitschfrei gerät, bleibt zu bezweifeln, aber das gibt mir nicht das Recht, ihm überhaupt nicht die Chance dazu zu lassen. Mir geht es jetzt besser. Ich kann wieder atmen, weil meine Langleitung sich schließlich bereitgefunden hat, sich zu erinnern, dass Kitsch nicht deshalb schlecht ist, weil uns das Lehrer Hempel in Klasse Neun mal so beigebracht hat, sondern weil er falsch ist. Weil er eine Geschichte falsch macht und ihr das Lebendige abdrückt. Das, was bei uns bleiben könnte und sogar (ein bisschen) gegen den großen schwarzen Gong anstinkt, weil wir’s glauben können.
Ganz nebenbei haben sich im Zuge dessen die Probleme mit den zwei Frauen und den zwei Antagonisten von selbst gelöst, und das ist auch nicht verwunderlich. Ich glaube, Du kannst mir jetzt wieder trauen, Ararat. Und mit mir ins Museum gehen.
E la solita storia …
Dieser Tage habe ich gehört, eine sehr bekannte, erfolgreiche Autorin habe gesagt, wer heute Schriftsteller (sic!) werden möchte, müsse wissen, dass das ein kränkender Beruf sei. Ich kann das jetzt nicht verifizieren, kenne auch die Autorin und ihre Texte nicht, und lasse das einfach mal so stehen.
Für mich stimmt das (auch wenn Schriftsteller nicht mein Beruf ist). Manchmal so, dass ich’s mit dem Rest vom Leben ausgleichen kann, und manchmal so, dass es mir den Atem nimmt. Dieses Jahr ist bisher entschlossen, sich als von der atemberaubenden Sorte zu erweisen, und ein bisschen gehe ich nach drei Monaten schon in die Knie. Aber man wird eben älter, und meine Knie waren zum Marathonlaufen schon immer besser geeignet als zum Schreiben. Gemein wird’s erst, wenn ich wieder mal aus meinem Wolkenkuckucksheim schrecke und bemerke, dass sämtliche Tiefschläge des Veröffentlichens – scheußliche Covers, schlechte Verkaufszahlen, Lektoratsprobleme, verschleppte Zahlungen, verlorene Rechte – mich nicht so sehr kränken wie ich mich selbst. Die schlimmste Kränkung, die, die mich lahmlegt, ist immer die Feststellung, dass auch der brandneue Roman wie seine Vorgänger an der einen Krankheit leidet, an der er nicht leiden sollte: Kitsch.
Mit ihren anderen Fehlern kann ich leben. Die zwicken, aber sie kränken nicht und sie legen mich nicht lahm. Wenn mir einer sagt, meine Bücher sind zu lang, muss ich lachen. Ja, das sind sie, sie hätten schlanke Selleriestangen werden sollen und sind fette Schinken geworden, aber sie sind ja auch von mir (Vegetarier …), und in dem vielen Gesabbel und den Erklärungen zum Kauf einer Bahnsteigkarte erkenne ich zwar nicht meine erfreulichste Seite, aber eine, die ich auch weiterhin wasche. Wenn mir einer sagt, meine Bücher sind düster, trifft mich das, weil ich das nicht bin und weil meine Bücher das nicht sein sollten, aber eigentlich mag ich „düster“ lieber als „rosig“. Es ist nicht verkaufsfördernd, aber es schlägt mir auch nicht auf den Magen.
Kitsch tut das. Kitsch ekelt mich. Kitsch stampft das, was ich mit meinen Geschichten möchte und mir für meine Figuren wünsche, kaputt. Kitsch treibt mich zur Verzweiflung, weil ich mich ihm gegenüber so hilflos fühle. Ich mag keinen lesen. Ich mag keinen schreiben. Wie kommt der dann in meine Geschichten?
Bis ein Roman veröffentlicht ist, betätige ich mich als Meister des Selbstbetrugs, wobei mich nach wie vor fasziniert, wie viel ich mir unbesehen glaube. Während der Überarbeitung fühle ich mich mit gefletschten Zähnen als gefährlicher Kitsch-Hunter, der eine Schmeißfliege nach der anderen platt klatscht und zudem ein Heer tapferer Testleser mit roten Kitschalarm-Leuchten um sich hat. Dann folgt das Lektorat. Wenn mir da noch was in die Finger kommt, rupf ich’s aus und reibe mir die Hände, aber sofort danach beginnt die Drei-Affen-Phase: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Zu Deutsch: Ich tue so, als wüsste ich, dass DIESMAL alles in Ordnung ist mit meinem Text und rühre ihn nicht mehr an, damit ich nicht in Versuchung komme, zu bemerken, wie gewaltig ich mich gerade selbst zum Hansi mache.
Die Belege, die verschickt werden müssen, stopfe ich hastig in Umschläge. Die Kiste mit dem Rest kommt postwendend nach oben, ins Kramzimmer. (Ich lass die immer meinen Mann schleppen, damit mir kein Buch aus Versehen aufklappt …) Dann kommt die erste Rezension, meistens von irgendeinem reizenden Menschen, der irgendwo das reizende Wort „kitschfrei“ unterbringt. Das ist der Augenblick, in dem der Autor, wenn er einen Erbonkel hätte, eine Flasche Champagner kaufen gehen würde. Darauf folgen die Leserunden. Dazu muss das Buch aus der Kiste geholt und aufgeklappt werden, und zeitgleich betritt der erste, nichts Böses wollende Leser die Bühne, der amüsiert grinsend feststellt: „Mensch, Charlie, das ist ja – Kitsch!“ Und das ist der Moment, in dem der Autor, wenn er einen stabileren Magen hätte, eine Flasche Absinth kaufen gehen würde. Und das Buch aus dem Fenster feuern.
Weshalb passiert mir das? Ich unterrichte Creative Writing. Ich coache Romanautoren. Ich lektoriere Romane. Ich kann erklären, wie man einen Cliffhanger setzt und einem Antagonisten Kraft gibt, wie man einen Spannungsbogen straff zieht und einen Figurenpark auf handhabbare Größe reduziert. Aber ich weiß nicht, wie man eine Geschichte erzählt, ohne sie zu kränken, ohne sie mit künstlichen Aromastoffen zu vergiften, ohne ihr die Würde zu nehmen, indem man ihre schönen, klaren Fugen mit Schmalz zukleistert.
Mich macht das so traurig. Mir tut das für meine Geschichten so leid. Ich weiß keine Abhilfe. Selbst wenn ich – was ich sehr gern für meinen Roman tun möchte – Geld, das ich nicht habe, ausgebe, um ein Seminar oder einen Coach zu buchen – gibt es eins oder einen mit dem Motto „Kitsch vermeiden“? Ich habe keines gefunden, ich kenne in dem ganzen Haufen hilfsbereiter Kollegen, von denen ich schon so viel gelernt habe, keinen, der mir sagt: „Pass mal auf, jetzt erkläre ich dir mal, wie du das Schritt für Schritt üben kannst.“
Ich weiß noch, wie verzweifelt ich war, als ich das in Twelfthnight entdeckt habe, in meiner Twelfthnight, von der ich so sicher war, die hätte das nicht nötig. Damals wollte ich unbedingt eine Geschichte über Erasmus von Rotterdam schreiben, weil ich sicher war, da hätte ich das Problem dramaturgisch vermieden, weil die Mann-Frau-Story, bei der mir das immer passiert, nicht enthalten ist. Mich hat das damals keiner schreiben lassen. Und heute sitz‘ ich noch deutlich beknackter da, weil die Story, in die ich verliebt bin, DIE BEIDEN STORIES, IN DIE ICH VERLIEBT BIN, ohne Mann&Frau nicht funktionieren. Ist an der Stelle schon der Wurm drin? Ist der Abstand zwischen Autor und Sujet nicht groß genug? Aber die, wo der Abstand massig war, enthielten auch Kitsch. Nur hat’s mich da weniger gekratzt, weil’s mir nicht so sehr wie Verrat vorkam.
Ich finde Kitsch nicht hübsch. Ich finde Kitsch so unappetitlich wie Schmalz und Kohl und Torte Moskau. Vor allem (ich fürchte, darauf läuft’s bei mir derzeit immer hinaus) finde ich Kitsch so fürchterlich unerotisch. Ich kann doch verdammt nochmal einem Roman nicht einen so chicen Namen wie Ararat geben und ihm dann die Ritzen mit Blümchen-Klopapier vollstopfen!
Ararat, das darf uns nicht passieren. Ich sollte ganz furchtbar mutig sein und die Hatti anschauen, um endlich herauszufinden, warum mir das passiert. Aber ich bin gerade das Gegenteil von ganz furchtbar mutig. Ich fühl mich klein, ich hab Angst um Dich und ich verkriech mich jetzt und fahr‘ mit Dir ins Museum. Morgen, ja? Oder übermorgen. Oder dann, wenn ich den Coach entdeckt habe, der uns hilft und der das Anti-Kitsch- Programm für panische Möchtegern-Autoren erfunden hat.
Zeitmanagement, die Zweite
Zeit ist Geld. Wer kein Geld hat und ständig vergisst, sich Lottoscheine zu kaufen, hat folglich keine Zeit, einen Roman zu schreiben. Er muss stattdessen seine Arbeit tun.
Ich kann nicht schlafen, weil ich kein Geld habe, um mir Zeit zu kaufen und meinen Roman zu schreiben. Schon seit Wochen nicht. Oder sind es inzwischen nicht längst Monate? Weil ich nicht schlafen kann, geht meine Arbeit immer schleppender voran, was dazu führt, dass der Zeit-und-Geld-Bestand anfängt, unter die Nulllinie zu rutschen. Dementsprechend geht’s mir. Ich möchte ständig irgendwas aus dem Fenster schmeißen. Wenn ich schmeiße, muss ich’s ersetzen, was sich wiederum negativ auf den Geld-und-damit-Zeit-Bestand auswirkt, und so dreht sich das Ganze nicht nur im Kreis, sondern in einer Art Würgespirale, die mir allmählich an die Nieren geht (an den Magen, um genau zu sein. But so what).
So geht’s nicht weiter. Jedenfalls nicht lange und schon gar nicht gut. Ich hab kein Geld, keine Zeit und keinen Lottoschein, aber ich hab einen Primo uomo mit Kleptomanie. Den mach ich jetzt nach. Wenn ich Zeit nicht kaufen kann, muss ich anfangen, nicht da und dort kleckerweise, sondern mit System zu stehlen. Somit habe ich beschlossen, für den Anfang an jeden Museumstag eine gestohlene Stunde anzuhängen. Nur für uns, für Ararat und mich. Und da ich in dieser Woche drei Museumstage habe, sind das drei komplette Stunden – mussten wir als verliebte Teenager, als wir nach der Schule noch die Welt zu retten und sonntags auf Tante Friedas Geburtstag aufzulaufen hatten, nicht mit weniger auskommen?
Drei Stunden, auf die ich mich freuen kann, das sollte eigentlich genügen, um den Kopf über Wasser zu halten. Und dass ich mehr Zeit unmöglich stehlen kann, ohne mich zu erwischen (was man tunlichst vermeiden sollte, solange einem das Stehlen noch am Gewissen kratzt, sagt mein schöner Kleptomane), habe ich zudem eine Ausrede, die Einrichtung einer Facebook-Seite noch ein bisschen zu verschieben. Da habe ich mich in der schlaflosen Nacht nämlich todesmutig umsehen wollen, bin aber in Panik unter die Decken geflüchtet. Ararat, ich verspreche dir, sogar das tu‘ ich eines Tages für dich. Erst einmal muss ich mir aber glauben, dass das, was uns nicht umbringt, uns wirklich nur härter macht.
Leserunde
Ach, und das noch, weil ich versprochen habe, das in Zukunft immer hier bekanntzugeben (und das natürlich sehr gern mache):
Zur Zeit läuft auf www.buchcouch.de eine Leserunde zu meinem Roman Twelfthnight. Die Buchcouch ist ein kleines, sehr privates Forum, in dem ich furchtbar gern lese, weil wir immer vom Hundertsten ins Tausendste kommen und Diskussionen über „liest sich flüssig“, „bin gut reingekommen“ und „der XYZ war wie der Friseur von meinem Ex-Schwiegervater“ weit hinausgehen. Für mich ist das ein Geschenk, das mir die Leser machen, ich profitiere davon ohne Ende. Dass mein Buch Interesse weckt und zu derart lebhaften Gesprächen führt, ist verblüffend, berückend und unbeschreiblich motivierend – und zwar auch dann, wenn das Interesse kritisch mit dem Buch ins Gericht geht. Außerdem blödeln wir dabei, was das Zeug hält, was meiner momentanen Flaute Wind verleiht.
Wer Lust hat, sich dort umzusehen, wird von mir und Twelfthnight selbstredend freudig begrüßt.
Last men standing
Wenn ich Zeit hätte, die ich – aufgrund nicht gekauften Lottoscheins – nun leider auch künftig nicht habe, käme ich im Augenblick womöglich weiter. Obwohl alles, was mit dem Schreiben zusammenhängt, sich derzeit demotivierender denn je anfühlt, behält dieser Roman etwas Ruhiges, Unerschütterliches, das mir Respekt abnötigt. Wenn ich ihn anschreie: „Sieh dir doch an, was mit den anderen passiert ist!“, zuckt er die Schultern und erwidert: „Ich bin anders.“ Und sobald ich dann weiterbrülle: „Und wenn du anders sein willst, wie soll dann ausgerechnet ich mit dir fertigwerden?“, dreht er den schönen Kopf weg und hört nicht mehr hin.
Ich versuche also, mich tiefer in meine Misere hineinzutreiben, die Hitze der Feuerprobe zu erhöhen und mich über weitere Frustrationsgrenzen zu hetzen, um zu sehen, ob er sich nicht doch noch vertreiben lässt. Im Zug dessen habe ich mir gestern Abend eingestanden, dass ich – trotz reichlicher Knödelei daran – das Exposé noch überhaupt nicht präsentabel finde, dass ich zwei deutliche Schwächen darin erkenne, die geradewegs in den Genickbruch führen können (eine ist das Problem mit den zwei Frauen, die andere der Showdown, wo einer von zwei Antagonisten irgendwie dumm rumsteht. „Die antagonistische Kraft“ ist eben nichts, das sich mal eben locker durch zwei teilen lässt). Und eine Menge weniger tödlicher, aber fraglos unschöner Haken obendrein. Der Tiefschlag war mir – ich bin ja kein Indianer – dann doch ein bisschen heftig, weshalb ich beschloss, mir zum ersten Mal seit der Lektoratsschlappe zwei Seiten von der Hatti zu gönnen und zwar die, auf die ich immer am meisten abgefahren bin. Ich trau’s mich fast nicht, zu schreiben. Es war furchtbar. Gesucht habe ich einen Text, der mich über Monate in grinsende, herzrasende Räusche versetzt hat und den ich ungefähr achtundzwanzig mal durch den Wolf gedreht habe. Gefunden habe ich einen, der dringend überarbeitet gehört und schlicht und ergreifend zu viel Kitsch enthält.
Das war kein schöner Abend. Da half nur Kopf einziehen, sich an den Familientisch trollen und ans Schreiben nicht mehr denken. Wenn meine Argumente gegen meine Misere Ararat und Hatti sein sollen, die zwei, die „anders“ sind, was bleibt mir dann eigentlich übrig, wenn die genauso mit zu viel Schwulstwasser kochen wie die anderen? Mit „Vielleicht lässt du’s einfach“ bin ich eingeschlafen, und als ich irgendwann nach Mitternacht aufwachte, habe ich glasklar, farbig und im Riesenformat eine Szene vor mir gesehen, auf einem Bahnhof, Victoria, denk‘ ich, eine Szene aus einem Roman im Exposestadium, und an der war schon alles dran. Das war ziemlich beeindruckend, Ararat. Ich mit all meinem Gemecker und meinen Bedenken war ein bisschen still.
Mir passiert ja sowas sonst nicht. Ich muss alle Szenen aus meinen Fingern saugen, und geträumt habe ich von einem Roman nur ein einziges Mal, und das war Twelfthnight, die zählt nicht. Heute früh sind Hatti und Ararat natürlich noch die gleichen und nicht über Nacht von ihren Fehlern befreit worden. Aber sie sitzen noch immer hier bei mir, was ihren Vorgängern nicht vergönnt war. Die habe ich in dieser Phase immer angebellt, sie sollen mir gefälligst vom Hals bleiben.
Die sind anders, die zwei. Die sind stur. Und sie legen dabei eine Ruhe an den Tag, die unmöglich von mir sein kann.
One of those days
Ich wollt‘ heut‘ im Lotto gewinnen, um uns alle freizukaufen, Dich, mich und Twelfthnight, Anton und Hatti. (Unsere Freundin C auch noch, die wir dringend für zum Brainstorming HIER bräuchten, nicht hinter irgendeinem Schreibtisch weit weg.)
Und was ist? Ich hab wieder vergessen, einen Schein zu kaufen.
Dein Autor ist eine Nulpe, Ararat, aber er liebt dich und ist heut‘ fünf Kilometer geschwommen. Wer’s nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben, oder?
So sorry, love.
Treu sein, das liegt mir nicht
Ich habe dazu eigentlich nichts zu sagen. Nur etwas zu fragen. Das Thema plagt mich seit langem, ohne dass ich einer Lösung auch nur im Mindesten näher komme. Ich schummele mich zumeist links oder rechts daran vorbei, aber im Augenblick plagt es mich böse und gewaltig:
Weshalb darf eine männliche Hauptfigur im von Frauen gelesenen Unterhaltungsroman (also ein sogenanntes love interest) lügen, stehlen und mit Büchern schmeißen, schlagen, Krieg führen und durchaus auch töten, aber eines darf er niemals und ums Leben nicht – das Bett (oder was sonst so zur Verfügung steht) mit einer teilen, auf deren Schambein nicht One-and-Only gestempelt steht?
Ich habe das nie verstanden. Und gebe zu, dass mir diese nibelungentreuen ‚Helden‘ als Leser am schönsten Körperteil vorbei rutschen. Als Autor lässt mich ein Typ, dem entgeht, dass andere Omis auch schöne Enkelinnen haben, deutlich zu kalt, um ihm ein Feuerchen anzuzünden, eine Fackel zu tragen oder Pfeffer einzustreuen. Sind Moralapostel sexy? Ist irgendwer scharf darauf, die Suppe auszulöffeln, die alle anderen stehen lassen?
Nun muss man ja Lesern nicht alles erzählen. Begehen meine ‚Helden‘ (Das Wort finde ich noch unappetitlicher als love interest, to be honest) ihre moralerschütternden Treuebrüche eben allein mit mir im stillen Kämmerlein. Meistens klappt das. Immer klappt das nicht.
Was mache ich also, wenn ich meinen ganz reizenden und moralisch kein bisschen verwerflichen Primo uomo eine solche Todsünde in aller Öffentlichkeit (d.h. auf den Seiten meines Romans) begehen lassen muss, weil das dem Wesen der Figur, dem Wesen der Gegenfigur, der Historie beider Figuren, der Situation und der Dramaturgie der Geschichte nach unumgänglich ist? Muss ich den dann jetzt von der Leserinnenschaft lynchen lassen und mich noch daran freuen, dass die zu erwartende Leserinnenschaft sich bei Eigenveröffentlichung zahlenmäßig in einer Grenze halten wird, die er bei etwas Glück überleben könnte?
Das kann ich doch nicht machen! Es muss doch irgendwie vermittelbar sein, dass das – zumindest zwischen Leserin und Figur – kein Scheidungsgrund ist!
Beim Roman vor der Hattuša ist es mir schon einmal so gegangen. Ich fand, der sogenannte Treuebruch sei das plausibelste von der Welt, völlig klar und nachvollziehbar begründet, unausweichlich, no problem at all. Und was kam bei der Testleserunde auf weiblicher Seite als einstimmiges Echo?
„Wie kann der X das der Y nur antun?“
Den Treuebruch, wohlgemerkt. X tötet, flucht, lügt, ignoriert, verschweigt, brennt auf Krieg – darf er alles. Aber unter jemandes Bettdecke kriechen, wenn ihm kalt ist, darf er nicht (nee, ihm ist nicht kalt. Das ist mein Primo uomo, der diese Körpertemperaturregulationsprobleme hat, aber das wird ihm, fürchte ich, den Hals vor der Leserinnenschaft auch nicht retten). Beschädigter Held nennt man sowas. Aber ist beschädigt nicht erfreulicher als weichgespült?
Was mache ich denn da jetzt? Im Exposé lüge ich (das darf ich ja, solange ich nicht an der heiligen Kuh Fidelitas rüttele). Aber im Roman?
Verdammt, wieso ist denn dieses blöde Thema eine solche rote Karte? Weshalb zählt, sobald dieses Alarmlicht aufflammt, das ganze andere nicht mehr? Zum Beispiel der wunderschöne, schwarze Stoiker-Humor, den mein Primo uomo im Ärmel stecken hat. Oder die Fähigkeit sich, wenn er wollte, mit den Zehen an der Nase zu kratzen? Was ist denn dagegen schon das bisschen Gedödel am Rand?