Darf man Kitschromane schreiben, die 1938 spielen?

Natürlich darf man. Man darf ja auch Sülze, Eisbein und gekochten Kohl essen oder sich sein Essen aus Pulvern in bunten Tütchen zusammenrühren. Die Frage ist also eher: Muss man?

Vorab: Ich weiß keine Antwort. Ich will das nicht essen, das weiß ich. Nicht weil es geschmacklos, stillos oder ethisch fraglich sein könnte. Sondern weil’s mir nicht schmeckt.

Wenn mich ein Kitschroman – 1938 oder sonstwann – im Genick packen könnte, würde ich mir hemmungslos einen kaufen. Aber das kann er nicht. Ich kann in La Boheme weinen. Aber nicht über „Er küsste sie zärtlich und voll Verlangen“. Darüber kann ich, wenn’s harmlos ist, ein bisschen lachen. Wenn nicht, ekelt’s mich. So wie Sülze, Eisbein und gekochter Kohl (Tütenpulver nicht. Das ist ja trocken). Einmal hab ich ein Buch mit spitzen Fingern zur Tür hinaus und in meine Recycling-Tonne getragen, weil ich den Kohlgeruch in meinem Haus nicht haben konnte. Mein Mann hat sich totgelacht. Er nennt das Kitschhysterie.

An dem Punkt würde ich mich als Leser meiner eigenen Bücher fragen, wieso der Anti-Kitsch-Sensor eigentlich bei denen nicht ausschlägt. Wieso aus denen so viel Sülze, Kohl und Eisbein ungehindert in die Umwelt sickert. Über die Frage habe ich jahrelang nachgedacht und finde, es gibt eine einfache Antwort: Weil ich nicht das lese, was ich da aufs Papier gekitscht habe, sondern das, was vorher klar und scharf und trocken in meinem Kopf war.

Nun tut das ja keinem weh. Oder nur Kitschhysterikern und die können die Bücher mit spitzen Fingern  in ihre Abfalltonnen tragen, no problem.

Aber 1938?

Ich wollte das nie. Ich will keinen Kitschroman, der 1938 spielt, lesen, und ich wollte auch nie einen schreiben. Es gab aber eine Zeit (und früher hatten wir noch nen Kaiser), da habe ich mich gefragt, worüber ich eigentlich sonst schreiben sollte. Als ich achtzehn war, war ich überzeugt, ich würde nur warten und üben, bis ich die Kraft und die Stimme hätte, um einen Roman zu schreiben, der 1938 spielt. Mit achtundzwanzig dachte ich das – gegen Ungeduld kämpfend – noch immer. Mit achtunddreißig habe ich extrem langsam angefangen, zu begreifen, dass Üben und Warten aus Kohl keinen Rhododendron machen. Und dass ich anderes schreiben muss, wenn ich mit dem Schreiben nicht aufhören kann. Etwas, das keinem wehtut.

Jetzt bin ich achtundvierzig, habe eine ganze Menge Romane, die nicht wehtun, geschrieben, und nicke an den meisten Tagen mit dem Kopf. Manchmal kratze ich noch wie ein Trotzkind da, wo’s wehtut, am Schorf, aber meistens halte ich die Hände still und bin ein Schuster, der bei seinem Leisten bleibt. Dass der Carmen im letzten Jahr ein Roman zugeflogen ist, der Hattuša heißt, war von mir nicht geplant. Auch nicht gewollt. Als ich entdeckt habe, was mit der Hattuša los ist, hab ich der Carmen gesagt, dass wir das nicht schreiben dürfen. Dass wir die Kraft und die Stimme nicht haben, nur Sülze und Kohl. Aber da war Hattuša schon da. Und außerdem hab ich ja die Carmen, damit ich eine hab, die nicht auf mich hört.

Hab ich das wissen können, hätt‘ ich das wissen müssen, dass sowas sich auch in dreißig Jahren nicht totläuft? Dass ich mich, seit wir Hattuša haben, fühle, als stünde ich endlich vor meiner eigenen Tür? Den Schlüssel hab ich auch. Wer A sagt, muss auch B sagen. Zu Weihnachten, im Flugzeug, hab ich meinen Mann gefragt: Was ist 31 plus 7? Er hat’s gewusst, und um das Ergebnis komme ich, glaube ich, nicht herum. Um das, was wehtut.

Nein, ich finde nicht, dass man Kitschromane schreiben soll, die 1938 spielen (und nur um das trotz meiner Um-den-Brei-Rederei klarzustellen: Das gilt für die 1931 spielende Hattuša genauso wie für Ararat). Ich will keinen lesen. Aber ich schreib einen. Ich entschuldige das nicht. Ich weiß keine Rechtfertigung.  Ich sag’s nur. Mein Roman Ararat ist klar und scharf und trocken in meinem Kopf. Das bewahrt mich nicht vor Kohl und Sülze. Ich hab Angst. Mir fehlen Kraft und Stimme. Ich hab den Schlüssel und den Fuß in meiner Tür.

Gattungsnachweis

Pferde haben Equidenpässe. Die dienen zwar nicht zum Nachweis des Eigentümers (obgleich dieser verzeichnet ist), wohl aber zum Nachweis der Zugehörigkeit zur zoologischen Gattung Pferd. Wer keinen Equidenpass hat, ist offiziell kein Pferd und darf mithin auch nicht geschlachtet werden.

Romane haben Exposes. Darin wird zwar auch nicht zweifelsfrei nachgewiesen, wer ihr Eigentümer ist, aber ihre Zugehörigkeit zur Gattung Roman sowie der jeweiligen Unterart triumphal festgelegt. Du bist jetzt ein Pferd, Ararat. Auch wenn die Sache mit der Unterart sich nach wie vor schwierig gestaltet. Ich würde in die Sparte gern Eine Liebesgeschichte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs eintragen, aber das ist vermutlich so attraktiv, wie wenn im Equidenpass ‚buckelnder, keilender Trensenverweigerer‘ stünde. Der arme Gaul würde geradewegs in der Lasagne landen. Also habe ich jetzt erst einmal ‚Familiendrama‘ draufgeschrieben, was – finde ich – nach irgendwelchen schütterhaarigen Blondlingen klingt, die dauerlächelnd durchs Vorabendprogramm der Glotzkiste hopsen. Vielleicht streiche ich das wieder aus und lasse einfach ‚Roman‘ stehen. So wie einfach ‚Pferd‘. Und sicherheitshalber setze ich einen Haken in die Box ‚Nicht zur Schlachtung für den menschlichen Verzehr bestimmt‘.

Die Angabe des Namens ist im Equidenpass freiwillig. Ich habe freiwillig ‚Ararat‘ reingeschrieben und mein Herz genossen, das so tat, als würde es mir gegen den Kehldeckel klopfen. So gefühlt hab ich mich zuletzt 1995. Damals schrieb ich unter ‚Angabe des Namens‘: ‚Glencoe, born under a Chestnut Tree‘. Heut ist mein Kitsch mir (wenigstens partiell) peinlicher, also schreib ich nix mit ‚born under‘ und dein Geburtsdatum hab ich auch vergessen, Ararat. Das von Glencoe war der 6. Dezember 1995. Aber der Roman ist nur geschrieben, nie gedruckt worden, so don’t complain.

Die Frage des Eigentümers bleibt die schwierigste. Nicht nur wegen der weiterhin ungeklärten Rechtslage, sondern mehr noch wegen der Carmen. Und meinetwegen. Ich möcht‘ gern, dass in der Sparte „Charlotte Lyne und Carmen Lobato“ steht (was die Carmen möchte, erzähl’ ich lieber nicht). Von verschiedener Seite wird mir nahegelegt, das sei doof, ich solle lieber „Charlotte Lyne schreibt als Carmen Lobato“ reinschreiben. Aber das passt nicht. Wenn ich als die Carmen schreibe, wenn ich das überhaupt kann – wo ist denn dann das, was ich bin, im Ararat?

Darf man beim eigenen, ganz und gar selbstgebastelten Roman etwas, das doof ist, trotzdem machen, weil man’s nicht doof, sondern chic findet? Schließlich dient der Romanpass ja nicht dem Nachweis des Eigentümers. Nur dem Nachweis der Gattung. Pferd, Ararat. Salatbeet. Roman.

Unser Lavash war zu lange gebacken, aber das ganze Haus roch nach Middle East. Und gegessen und gefeiert haben wir‘s trotzdem.

Mein Primo Uomo. Und Lösungen im Wartestand

Für den Begriff ‚Primo Uomo‘ habe ich mich jetzt mal entschieden, weil das nach ‚Di quella pira‘ klingt und nicht diese unsägliche Unsexyness verbreitet wie beispielsweise ‚mein männlicher Hauptdarsteller‘. Als bestünde der geringste Zweifel daran, dass mein Primo uomo männlichen Geschlechtes sei. Es besteht keiner. Ich bin seit geschlagenen sieben Monaten in ihn verliebt, was bei einer, die mit kurz vor fünfzig noch immer ‚Treu sein, das liegt mir nicht‘ pfeift, einen höchst einsamen Rekord darstellt. ‘Mein außerordentlich/eklatant/zum Bäume Ausreißen männlicher Hauptdarsteller’ ginge womöglich, aber nach Deutschunterricht klingt’s immer noch, und wenn ich „Haupt“ schon höre, schrillt mir die absurde Konstruktion „Hauptprotagonist“ in den Ohren – weshalb übrigens „mein Protagonist‘ auch flach fällt. Die Krone der Übelkeit aber erregt ‚love interest‘. He is no love interest. He is mine! (Und auf das Gemecker von der Carmen geb ich gar nichts. Wenn hier heut‘ der Sonntagabendbesuch zum Lavash-Essen einrückt, hat MEIN ROMAN ARARAT ein Exposé. Was geht mich DEIN ROMAN HATTUŠA an? Es sei denn, du möchtest teilen …)

Also beschlossen. Mein Primo Uomo.

Mein Primo Uomo ist ein Problem. Und Probleme, hat hier gerade jemand behauptet, sind Lösungen im Wartestand. Mein Primo Uomo ist vornehmlich ein Problem, weil er – durch Verletzung – auf einem Ohr taub ist und daher keine RAF-Maschine fliegen darf. Ich habe den RAF-Experten beheult, bebettelt, bekniet. Nix zu machen. Er darf nicht. Dass er an Anorexie leidet und ein Jahr über der Altersgrenze liegt, lässt sich knapp acht Monate vor Kriegsausbruch und in der allgemeinen Keine-schlagfähige-Luftwaffe-Panik zur Not unter den Tisch kehren, aber ein taubes Ohr nicht. Gar nicht. Kein Verhandlungsspielraum. Kein Wenn und kein Aber.

Ich habe mich dieser eiskalten Abfuhr gegenüber gefühlt wie mein Enkel (2), der sich in solchen Situationen auf den Boden wirft und der störrischen Welt seine Fäuste verpasst. Traditionell wollen liebende Frauen dem Objekt der Begierde diese Welt ja zu Füßen legen, und ich war in höchster Versuchung, die zu packen und zurechtzubiegen, damit sie meinem Schönen passt. Wen kratzt schließlich, wer vor sechsundsiebzig Jahren in Großbritannien zur Kampfpilotenausbildung zugelassen wurde und wer nicht? Erzähl ich eine Geschichte, die mich seit Wochen allnächtlich seufzen, nach Atem schnappen und mit den Beinen zappeln lässt, oder schreib ich den Besinnungsaufsatz „Warum ich Gutes tun und Böses lassen soll“ in Klassenstufe Neun?

Die Maschine, die ich mit Hilfe des RAF-Experten, der letztendlich alles versaut hat, und meines Sohnes für ihn ausgesucht hatte, heißt Hawker Hurricane. An meinem schönen Primo Uomo auf einer Hawker Hurricane habe ich mich wochenlang hochgezogen (ich bin im hormongeplagten Alter! Ich bin entschuldigt). Die wollt‘ ich ihm und mir nicht nehmen lassen. Und ganz nebenbei wäre mir ohne Hawker Hurricane auch noch das bescheidene Kollateralproblem geblieben, den schönen Mann in Kriegszeiten von London, England, nach Van, Türkei, zu bekommen, wenn der seine Hawker Hurricane nicht fliegen darf.

Mach ich nicht. So basta bäh. Lieber werf ich mich auf den Boden, hau mir die Fäuste kaputt und halt die Hawker Hurricane mit den Überresten meiner Zähne fest.

Dachte ich. Bis mir einer dieser im Roman nicht glaubhaften Zufälle einen tatsächlichen Menschen  vor die Füße schubste, dem genau das passiert ist. Nicht 1938. Aber 2012. Auf einem Ohr taub. Nach Verletzung. Von der RAF nicht tauglich gestempelt. Nachdem der mir erzählt hat, wie sich das anfühlt, solche Maschine, die man aus guten Gründen unbedingt fliegen will, de facto nicht fliegen zu können, weil man selbst keine vollständige und ersatzteilgesicherte Maschine mehr ist, sondern einen Gleichgewichtssinn hat, der verrückt spielt, ist mir klargeworden, dass nicht mein Primo Uomo das Problem ist, sondern sein Autor. Ich. In Neu-Schreibschulen-Deutsch nennt man sowas, glaube ich, einen typischen Fall von Heldenschonung. Und damit nimmt man sich das große Drama, das man inszenieren wollte, selbst.

Den Schlag ins Gesicht wollt‘ ich ihm auf gar keinen Fall verabreichen. Schon bei der Vorstellung zog sich mein Innerstes zusammen, und meiner Kehle entrang sich ein gequältes Winseln. Aber der Jammerlappen bin ich, nicht er, der solche Randwidrigkeiten nonchalant auf einer Schulter wegzuckt. Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber bei mir selbst könnte ich es allmählich wissen: Habe ich ein technisches Problem, das sich als unlösbar erweist, kann ich fast sicher sein, dass es in Wahrheit ein dramaturgisches ist.

Übrig blieb mir, wie gesagt, das kollaterale Transportproblem. Doch nach einer mit Mann und Kind über Landkarten und Schiffsrouten verbrachten halben Nacht, hat mir mein Primo Uomo heute früh beim Laufen – noch nonchalanter – erklärt, das übernehme er. Der Mann ist ein Segen. Er ist nicht nur viel zu aufregend, um ‚mein männlicher Hauptprotagonistendarsteller‘ zu sein, sondern vor allem vielseitigst einsetzbar. Er hat nicht nur ein taubes Ohr. Kleptomanie hat er auch.

Let’s go Hawker Hurricaning.

Selbst mit kurz vor fünfzig fasziniert es mich noch, dass man zuweilen bekommt, was man will, auch ohne sich auf Pflasterstein die Fäuste kaputtzuhauen.

Ach und übrigens: Wir haben dann jetzt wohl ein Salatbeet. Einen Roman mit Exposé.

Gemüseanbau für Möchtegern-Bergsteiger

Bitte nicht lachen (oder nicht so laut): Eigentlich sollte dieser/dieses (?) Blog die Überschrift „Wie mein Roman entsteht“ tragen und ausschließlich der nämlichen Thematik gewidmet sein. Eigentlich hatte ich gehofft, mich eines Tages tollkühn umzudrehen und die freundlichen, geduldigen Menschen, die sich hierher verirren, zu bitten, mir doch ein bisschen beim Ziehen zu helfen, beim Herausziehen meines Romans aus dem Kopfgeburtskanal. Und eigentlich hoffe ich das immer noch.

Dass sich hier stattdessen meine Urlaubsplanung, meine Opernbesuche, mein Wetterbericht, meine Hausfrauentipps und meine Klagelieder tummeln, ist eine optische Täuschung. Wirklich! Das sind die Geräusche, die mein Roman beim Entstehen macht, während er nicht entsteht. Noch nicht entsteht. So ein Roman ist ja eine Art Salatpflanze, der man durch emsiges Einquirlen von Knochenmehl in Mutterboden ordentlich aufhelfen kann. Deshalb fahre ich nach Yerevan, lese Taylors „Bright Young People“ und „The Making of Modern London“ von Weightman und Humphries und führe Gespräche über die Selbstbetankung von Bombern, über Freihandzeichnen für Steinbildhauer, über Chiraptophobie und Agliophobie und über Kuratoren, die in U-Bahnschächten den Schlaf von Artefakten bewachen. Deshalb versuch ich morgen noch einmal, mit R Lavash zu backen, vertrödele Stunden, die ich nicht habe, in meinem Lieblingsmuseum, klopfe einer Spitfire (die ich aber gar nicht einsetzen kann) auf die Flanke und höre den zehnten Vortrag über Cuneiform-Reading.

Das ist alles Knochenmehl-Quirlen. Das macht meinen Boden reich.

Ob aber Salat draus sprießt, bleibt, so sehr ich mir auch das Gegenteil beteuere, eine andere Frage. Und wenn ich über die rechtliche Situation des potentiell bleibenden Salats am 27. März ein halbwegs ergebnisorientiertes Gespräch führen will, sollte ich vielleicht zumindest in der Lage sein, eine Dokumentation vorzulegen, die zur Beschaffenheit des ‚Salad in question‘ eine halbwegs relevante Aussage macht. Also habe ich beschlossen, vom heutigen Tag nicht nur eine Stunde, sondern den kompletten Arbeitsmorgen zu stehlen und todesmutig die Splitter in die Hand zu nehmen, die das Exposé zu meinem Roman Ararat werden sollen.

Das Ergebnis könnte man in die Kategorie ‚Wer keinen doofen Tag hat, der versaut sich einen‘ einordnen.

Das Exposé ist schlecht. Dafür, dass es noch nicht einmal ein Exposé ist, sondern nur ein Haufen von Brocken, ist es sogar erstaunlich schlecht. Zu Deutsch: Es ist unbrauchbar. (Dass mich das so wenig schreckt, erlaube ich mir jetzt mal, als gutes Zeichen zu werten.)

Das ist jetzt mein erster Schritt, meine Pilotfolge in der Reihe „Der Berg und ich oder: Wie mein Roman entsteht“: Ein Exposé in die Tonne kloppen und ein neues aus dem Knochenmehl-verwöhnten Boden stampfen. Der Morgen ist  zwar jetzt aufgebraucht, aber da Mann und Kind heute in mein Lieblingsmuseum abwandern (ohne mich!), hab ich auch noch ziemlich viel vom Abend, das ich (ist Kleptomanie ansteckend?) mir zusätzlich stehlen kann, um damit anzufangen. Und damit ich heut‘ Abend noch Kraft übrig habe, schiebe ich jetzt einfach die Arbeit, die ich nicht mag (und die eilt), in der Chaoszone beiseite, und ziehe die, die mir leicht fällt (und die nicht eilt) näher an den Comp und mich. Ich bin heute mein eigenes Hätschelkind. Mit Knochenmehl genudelt. Für Dich, mein schwarzer Schöner. (Gerade hat eine Kollegin erzählt, ,Romane mit Nazi-Hintergrund’ wären der neue Trend. Zwar erzählt mir bisher jeder nur das Gegenteil, aber das wollt‘ ich Dir trotzdem in Dein schönes Muschelohr flüstern. Love you, Ararat.)

Andere nennen das Zeitmanagement. Ich versuch’s mal mit Frühlingserwachen.

Mi chiamano Mimi

Liebster Ararat.

Dein Autor ist der, der gestern die zwei (in Worten: ZWEI!) Romane, die er im letzten Jahr geliebt hat, in einem Schwung verraten hat. Über die Klinge springen lassen. Weil das leichter ging als Kämpfen. Weil dein Autor so furchtbar müde ist. Das, was Sodbrennen verursacht, ist die Tatsache, dass diese derart deklarierte Müdigkeit Zynismus ist, dem schon die Tarnfarbe blättert.

Romane sind keine Menschen. Zu behaupten, sie könnten verraten werden, ist pathetisch und ein bisschen pubertär. Weshalb fühlt sich’s dann trotzdem so an?

Weil ich – to be frank – nicht beliebig viele davon habe. Weil ich die geschenkt bekomme. Weil die das beste enthalten, was ich aufzubieten habe, um mit Menschen zu kommunizieren. Weil die mit mir kommunizieren. Über Menschen. Manchmal.

Vielleicht verrate ich Dich auch. So wie Anton und Hatti. Vielleicht verkaufe ich Dich wie andere Leute ihre Großmütter. Vielleicht sollte ich Dich beschwoeren: Flirte mit mir, aber heirate mich nicht. Ararat, Schönster, soll ich Dir eine andere suchen, die Dir einen Antrag macht und für Dich durchs Feuer geht?

Bedenke aber:

Dein Autor ist einer, der drei Stunden lang heult und am Ende lautlals durch die Albert Hall schluchzt, weil eine Frau, der das Licht ausgegangen ist, ihrem Nachbarn erzählt, alle Welt nenne sie Mimi, obwohl sie Lucia heißt.

Ararat, heirate mich. Du kannst eine bessere finden, eine die nichts von Verrat weiß, der Zynismus fremd bleibt und die keine Großmütter verkauft. Aber keine, die siebenundzwanzigmal in ihrem Leben La Boheme durchgeheult hat. Beim Applaus, als mir kaum noch etwas blieb, um die Bescherung aufzuwischen, hat mich meine entzückende japanische Sitznachbarin fürsorglich gefragt: „Ach, wussten Sie nicht, dass sie am Ende stirbt?“

Nein, Ararat, ich glaub, das wusste ich auch beim siebenundzwanzigsten Mal nicht.  Vielleicht verrat‘ ich dich, aber vorher sing‘ ich dir ‚Talor dal mio forziere‘ ins Ohr. Du mit deinen schönen Augen hast aus meiner Truhe alle Juwelen gestohlen. Ich bin ein zynischer Großmutterhändler, aber ich lerne das nicht, dass wir am Ende sterben.

Karasnortk. Lent 2014

Jetzt beginnt sie wieder, die große Warteschleife, die Kerbe im Jahr, in der die Schnelligkeit den Atem anhält, wenn wir sie lassen. Die Zeit der Vorbereitung und des Sich-Überantwortens. Vierzig Tage. Ich glaube, ich habe mir diese Reise, die in den Palmwedeln von Jerusalem und in den Tränen von Gethsemane ihr Ziel finden soll, nie so gewünscht. Mount Calvary. Mount Ararat. Wenn die Reise dem Ende zustrebt, sind wir in Yerevan, wo Lent Karasnortk, Great Lent, heißt.

Den Körper knapp halten und den Geist überhäufen, das war in den Vorjahren erfrischend, aber es scheint mir in diesem nicht genug. Ich würde gern mehr warten. Mehr vertrauen. Weniger über Fotokitschcovers, Verkaufszahlen, Schwächen schon geschriebener Texte, Schwächen schon verworfener Texte, Rechtsprobleme und Marktlagen aus dem Häuschen geraten und mehr von einem Roman träumen, der Ararat heißt. Lent nicht als Echo unserer täglichen Flüche, sondern als Erinnerung an das, womit wir gesegnet sind.

Allen, die heute mit uns aufgebrochen sind, lav chanaparh – eine gute Reise.

Berg in Sichtweite

Auch wenn ich mit der Fotocover-Schlagseite weiterhin durch die Landschaft torkele und seither weder gewagt habe, Hattuša anzufassen noch die Ararat-Kladde aufzuschlagen (was zwar nicht dem Selbstbewusstsein, wohl aber dem Arbeits-Output regelrecht erschreckend aufhilft), fühlt es sich gerade an, als ginge es erstmalig einen Schritt in die angestrebte Richtung – auf den Berg zu, nicht vom Berg weg. (Wenn ich ans Bergsteigen denke, würgt’s mich schon wieder, weil mir auf den Kopf fällt, dass mein Mont-Ventoux-Buch ein Trivialroman-Fotocover bekommt, aber was uns nicht umbringt, macht uns schwabbeliger.) Zwar habe ich in vier Tagen keinen Handschlag getan, um diesem  Roman, der Ararat heißen soll, in die Realität (?) zu verhelfen, aber dafür habe ich einen Termin, um über seine Rechte zu sprechen. Es ist der 27. März. Ein bisschen später als erwartet, aber noch vor Yerevan. Das scheint nahezu ideal. Fast gleichzeitig traf die endgültige – und sehr freundliche – Freigabe für meinen Roman Twelfthnight ein, der mithin nach erfolgter Rechterückgabe ganz und gar und ziemlich atemberaubend mir gehören wird. Mir. A und ich haben schon recht erfreulich daran gearbeitet, das Cover ist so gut wie standfest, der Klappentext auch, über den Textkörper will ich noch ein- oder auch mehrmals drüber (das ist auch eine betörende Aussicht – über einen Textkörper so lange drüber zu dürfen, bis er blank ist, nicht bis eine Klappe zufällt). Es fühlt sich jetzt sehr schön und richtig an, dass Twelfthnight, den ich sechs Jahre lang am liebsten mochte, Ararat die Vorhut für das Abenteuer Selfpublishing macht. Die zwei (von denen nur der eine existiert, but so what?) passen auf ihre eigene Weise zusammen, die geben ein Gespann. Carmen, wenn ich Dir die Hälfte von meiner Twelfthnight schenke, schenkst Du mir die Hälfte von Deinen Hattuša-Figuren für unseren Ararat?

Und dann hätt‘ ich noch gern, dass auf meinen Romanen Twelfthnight und Ararat (wie das klingt – das macht am frühen Morgen ein bisschen besoffen) nicht Kindle Direct Publishing steht (steht das auf Kindle Direct Publishing Büchern überhaupt?), sondern Ararat Publishing.

Wow.

Letztes Jahr um diese Zeit habe ich zum ersten Mal gewusst, dass ich nicht nur davon träume und bis Trainingskilometer Fünfunddreißig komme, sondern im Jahr 2013 einen Marathon laufen werde. Heute glaube ich zum ersten Mal, zu wissen, dass ich im Jahr 2014 ein Buch machen werde. Mein Buch.

Und wenn es nicht kitschfrei ist, liegt das daran, dass ich nicht kitschfrei bin, denn Tickets für die Albert Hall habe ich – nach wochenlangem Widerstehen – nun doch gekauft, und morgen weine ich wieder einmal dreieinhalb Stunden lang in La Boheme. Und vielleicht frage ich A dann, ob wir nicht obendrein einen Verlag gründen sollten. Wir sind Großeltern. Wir sind noch jung. Wir heulen noch in La Boheme, wir sind verliebt in eine neue Stadt (die letzte Stadt, in die wir uns so sehr verliebt haben, war Torino), wir machen unser erstes Buch. Noi che abbiamo un po paura ma la paura se ne va …

Um uns klebt ein Fotokitschcover und es regnet weiter, aber manchmal gehört uns die Welt.

Das Leben ist schön

Vielleicht sollte ich das – um Missverständnisse selbst unter nicht existenten Lesern zu vermeiden – ab und an hier erwähnen. Das Leben ist schön. Es ist voller Yerevans, Musa Daghs, Brahms-Sinfonien, gespitzter Pferdeohren, Mandelstam-Gedichte, langer Läufe vor Sonnenaufgang. Vermutlich vergesse ich, das zu erwähnen, weil ich so sehr daran gewöhnt bin. Das Leben ist schön. Nur das Schreiben nicht. Was mein Gejammer über das Schreiben – zugegeben – zum Gejammer auf hohem Niveau macht.

Ich habe gerade gelesen, dass es sich bei Arachibutyrophobie um die Angst handelt, Peanutbutter könnte einem am Gaumen kleben bleiben. Bemerkenswert. Wie die Angst vorm Nicht-schreiben-können heißt, habe ich nicht gelesen. Stattdessen frage ich mich wieder einmal, warum einer, der in bald vierzig Jahren gelernt hat, dass er nicht schreiben kann, der sich vorm Schreiben fürchtet und der sich mit dem Schreiben ins Leben, das schön ist, pfuscht, verbohrt und unbelehrbar weiterschreibt. Wieso muss ich am Schreibzwang leiden, wieso kann ich den nicht beispielsweise gegen das bemerkenswerte Erdnussbuttergrausen eintauschen?

Mein Trotzfuß möchte aufstampfen und behaupten: Weil mir manchmal so etwas wie mit Hattuša passiert. Aber zum einen ist mir Hattuša nicht manchmal, sondern nur einmal passiert, und zum andern frage ich mich gerade, ob ich nicht Hattušaphobie entwickeln sollte, denn bei Licht betrachtet wäre es allmählich an der Zeit, festzustellen, dass Hattuša nichts anderes ist als ein konventioneller Liebesroman der Sparte leichte Unterhaltung. Einer, auf den man ein Trivialroman-Fotocover pappen könnte (wogegen mein Magen krampfend protestiert und behauptet, er leide an Fotocoverphobie). Außerdem ist Hattuša im Lektorat und ich darf an ihn nicht mehr dran, darf aus ihm nicht einmal den besten konventionellen Fotocover-Liebestrivialroman der Sparte leichte Unterhaltung machen, den ich daraus machen könnte. Unterm Strich wird Hattuša für Leser, die ihn nicht liebeslechzend und halbblind betrachten, dasselbe sein wie die, die vor ihm kamen: Ein Schnellverbrauchsroman voller Schwächen (mit dem Vertreter desselben Genres, den ich gerade von einer Kollegin gelesen habe, kann er technisch zum Beispiel nicht im Mindesten mithalten. Und außerdem hat er nach wie vor einen sogenannten Love Interest – gibt’s Loveinterestphobie? – der erst auf Seite 150 auftritt).

Love you, Hattuša.

Das Leben ist schön. Nach R’s Konzert haben wir ein Restaurant entdeckt, das wirklich und wahrhaftig Erebuni heißt. Gestern wollten wir vor lauter Yerevan-Sehn- und Fühlsucht dort essen gehen, doch es hatte geschlossen, weshalb wir in einem soliden Londoner Pub landeten und nichts aßen. Zum Ausgleich bleiben – nachdem wir kurz vorm Aufgeben waren – die ersten ostarmenischen Worte hängen. Ganz wirklich. (Dass ich lieber westarmenische Worte lernen würde, weil ich unverbesserlich bin und jeder todesgefährdeten Sprache meine Liebe nachschmeißen muss, behalte ich jetzt mal für mich. Man kann ja nicht an allem herummeckern. Gibt’s eigentlich Sprachtodphobie?) Heute backt R, der der Backsucht verfallen ist, für einen Abend mit Freunden Focaccia und ich soll Polenta machen. Ich wollte ihn überreden, stattdessen Lavash zu backen, und bot an, mich zum zweiten Mal an Harissa zu versuchen, aber er traut sich nicht. Ist auch gut so. Focaccia ist Zuhause, und Lavash ist der schöne, fremde Geliebte. A dekantiert ausnahmsweise Chianti Classico. Das Leben ist schön.