Mi chiamano Mimi

Liebster Ararat.

Dein Autor ist der, der gestern die zwei (in Worten: ZWEI!) Romane, die er im letzten Jahr geliebt hat, in einem Schwung verraten hat. Über die Klinge springen lassen. Weil das leichter ging als Kämpfen. Weil dein Autor so furchtbar müde ist. Das, was Sodbrennen verursacht, ist die Tatsache, dass diese derart deklarierte Müdigkeit Zynismus ist, dem schon die Tarnfarbe blättert.

Romane sind keine Menschen. Zu behaupten, sie könnten verraten werden, ist pathetisch und ein bisschen pubertär. Weshalb fühlt sich’s dann trotzdem so an?

Weil ich – to be frank – nicht beliebig viele davon habe. Weil ich die geschenkt bekomme. Weil die das beste enthalten, was ich aufzubieten habe, um mit Menschen zu kommunizieren. Weil die mit mir kommunizieren. Über Menschen. Manchmal.

Vielleicht verrate ich Dich auch. So wie Anton und Hatti. Vielleicht verkaufe ich Dich wie andere Leute ihre Großmütter. Vielleicht sollte ich Dich beschwoeren: Flirte mit mir, aber heirate mich nicht. Ararat, Schönster, soll ich Dir eine andere suchen, die Dir einen Antrag macht und für Dich durchs Feuer geht?

Bedenke aber:

Dein Autor ist einer, der drei Stunden lang heult und am Ende lautlals durch die Albert Hall schluchzt, weil eine Frau, der das Licht ausgegangen ist, ihrem Nachbarn erzählt, alle Welt nenne sie Mimi, obwohl sie Lucia heißt.

Ararat, heirate mich. Du kannst eine bessere finden, eine die nichts von Verrat weiß, der Zynismus fremd bleibt und die keine Großmütter verkauft. Aber keine, die siebenundzwanzigmal in ihrem Leben La Boheme durchgeheult hat. Beim Applaus, als mir kaum noch etwas blieb, um die Bescherung aufzuwischen, hat mich meine entzückende japanische Sitznachbarin fürsorglich gefragt: „Ach, wussten Sie nicht, dass sie am Ende stirbt?“

Nein, Ararat, ich glaub, das wusste ich auch beim siebenundzwanzigsten Mal nicht.  Vielleicht verrat‘ ich dich, aber vorher sing‘ ich dir ‚Talor dal mio forziere‘ ins Ohr. Du mit deinen schönen Augen hast aus meiner Truhe alle Juwelen gestohlen. Ich bin ein zynischer Großmutterhändler, aber ich lerne das nicht, dass wir am Ende sterben.

Karasnortk. Lent 2014

Jetzt beginnt sie wieder, die große Warteschleife, die Kerbe im Jahr, in der die Schnelligkeit den Atem anhält, wenn wir sie lassen. Die Zeit der Vorbereitung und des Sich-Überantwortens. Vierzig Tage. Ich glaube, ich habe mir diese Reise, die in den Palmwedeln von Jerusalem und in den Tränen von Gethsemane ihr Ziel finden soll, nie so gewünscht. Mount Calvary. Mount Ararat. Wenn die Reise dem Ende zustrebt, sind wir in Yerevan, wo Lent Karasnortk, Great Lent, heißt.

Den Körper knapp halten und den Geist überhäufen, das war in den Vorjahren erfrischend, aber es scheint mir in diesem nicht genug. Ich würde gern mehr warten. Mehr vertrauen. Weniger über Fotokitschcovers, Verkaufszahlen, Schwächen schon geschriebener Texte, Schwächen schon verworfener Texte, Rechtsprobleme und Marktlagen aus dem Häuschen geraten und mehr von einem Roman träumen, der Ararat heißt. Lent nicht als Echo unserer täglichen Flüche, sondern als Erinnerung an das, womit wir gesegnet sind.

Allen, die heute mit uns aufgebrochen sind, lav chanaparh – eine gute Reise.

Berg in Sichtweite

Auch wenn ich mit der Fotocover-Schlagseite weiterhin durch die Landschaft torkele und seither weder gewagt habe, Hattuša anzufassen noch die Ararat-Kladde aufzuschlagen (was zwar nicht dem Selbstbewusstsein, wohl aber dem Arbeits-Output regelrecht erschreckend aufhilft), fühlt es sich gerade an, als ginge es erstmalig einen Schritt in die angestrebte Richtung – auf den Berg zu, nicht vom Berg weg. (Wenn ich ans Bergsteigen denke, würgt’s mich schon wieder, weil mir auf den Kopf fällt, dass mein Mont-Ventoux-Buch ein Trivialroman-Fotocover bekommt, aber was uns nicht umbringt, macht uns schwabbeliger.) Zwar habe ich in vier Tagen keinen Handschlag getan, um diesem  Roman, der Ararat heißen soll, in die Realität (?) zu verhelfen, aber dafür habe ich einen Termin, um über seine Rechte zu sprechen. Es ist der 27. März. Ein bisschen später als erwartet, aber noch vor Yerevan. Das scheint nahezu ideal. Fast gleichzeitig traf die endgültige – und sehr freundliche – Freigabe für meinen Roman Twelfthnight ein, der mithin nach erfolgter Rechterückgabe ganz und gar und ziemlich atemberaubend mir gehören wird. Mir. A und ich haben schon recht erfreulich daran gearbeitet, das Cover ist so gut wie standfest, der Klappentext auch, über den Textkörper will ich noch ein- oder auch mehrmals drüber (das ist auch eine betörende Aussicht – über einen Textkörper so lange drüber zu dürfen, bis er blank ist, nicht bis eine Klappe zufällt). Es fühlt sich jetzt sehr schön und richtig an, dass Twelfthnight, den ich sechs Jahre lang am liebsten mochte, Ararat die Vorhut für das Abenteuer Selfpublishing macht. Die zwei (von denen nur der eine existiert, but so what?) passen auf ihre eigene Weise zusammen, die geben ein Gespann. Carmen, wenn ich Dir die Hälfte von meiner Twelfthnight schenke, schenkst Du mir die Hälfte von Deinen Hattuša-Figuren für unseren Ararat?

Und dann hätt‘ ich noch gern, dass auf meinen Romanen Twelfthnight und Ararat (wie das klingt – das macht am frühen Morgen ein bisschen besoffen) nicht Kindle Direct Publishing steht (steht das auf Kindle Direct Publishing Büchern überhaupt?), sondern Ararat Publishing.

Wow.

Letztes Jahr um diese Zeit habe ich zum ersten Mal gewusst, dass ich nicht nur davon träume und bis Trainingskilometer Fünfunddreißig komme, sondern im Jahr 2013 einen Marathon laufen werde. Heute glaube ich zum ersten Mal, zu wissen, dass ich im Jahr 2014 ein Buch machen werde. Mein Buch.

Und wenn es nicht kitschfrei ist, liegt das daran, dass ich nicht kitschfrei bin, denn Tickets für die Albert Hall habe ich – nach wochenlangem Widerstehen – nun doch gekauft, und morgen weine ich wieder einmal dreieinhalb Stunden lang in La Boheme. Und vielleicht frage ich A dann, ob wir nicht obendrein einen Verlag gründen sollten. Wir sind Großeltern. Wir sind noch jung. Wir heulen noch in La Boheme, wir sind verliebt in eine neue Stadt (die letzte Stadt, in die wir uns so sehr verliebt haben, war Torino), wir machen unser erstes Buch. Noi che abbiamo un po paura ma la paura se ne va …

Um uns klebt ein Fotokitschcover und es regnet weiter, aber manchmal gehört uns die Welt.

Das Leben ist schön

Vielleicht sollte ich das – um Missverständnisse selbst unter nicht existenten Lesern zu vermeiden – ab und an hier erwähnen. Das Leben ist schön. Es ist voller Yerevans, Musa Daghs, Brahms-Sinfonien, gespitzter Pferdeohren, Mandelstam-Gedichte, langer Läufe vor Sonnenaufgang. Vermutlich vergesse ich, das zu erwähnen, weil ich so sehr daran gewöhnt bin. Das Leben ist schön. Nur das Schreiben nicht. Was mein Gejammer über das Schreiben – zugegeben – zum Gejammer auf hohem Niveau macht.

Ich habe gerade gelesen, dass es sich bei Arachibutyrophobie um die Angst handelt, Peanutbutter könnte einem am Gaumen kleben bleiben. Bemerkenswert. Wie die Angst vorm Nicht-schreiben-können heißt, habe ich nicht gelesen. Stattdessen frage ich mich wieder einmal, warum einer, der in bald vierzig Jahren gelernt hat, dass er nicht schreiben kann, der sich vorm Schreiben fürchtet und der sich mit dem Schreiben ins Leben, das schön ist, pfuscht, verbohrt und unbelehrbar weiterschreibt. Wieso muss ich am Schreibzwang leiden, wieso kann ich den nicht beispielsweise gegen das bemerkenswerte Erdnussbuttergrausen eintauschen?

Mein Trotzfuß möchte aufstampfen und behaupten: Weil mir manchmal so etwas wie mit Hattuša passiert. Aber zum einen ist mir Hattuša nicht manchmal, sondern nur einmal passiert, und zum andern frage ich mich gerade, ob ich nicht Hattušaphobie entwickeln sollte, denn bei Licht betrachtet wäre es allmählich an der Zeit, festzustellen, dass Hattuša nichts anderes ist als ein konventioneller Liebesroman der Sparte leichte Unterhaltung. Einer, auf den man ein Trivialroman-Fotocover pappen könnte (wogegen mein Magen krampfend protestiert und behauptet, er leide an Fotocoverphobie). Außerdem ist Hattuša im Lektorat und ich darf an ihn nicht mehr dran, darf aus ihm nicht einmal den besten konventionellen Fotocover-Liebestrivialroman der Sparte leichte Unterhaltung machen, den ich daraus machen könnte. Unterm Strich wird Hattuša für Leser, die ihn nicht liebeslechzend und halbblind betrachten, dasselbe sein wie die, die vor ihm kamen: Ein Schnellverbrauchsroman voller Schwächen (mit dem Vertreter desselben Genres, den ich gerade von einer Kollegin gelesen habe, kann er technisch zum Beispiel nicht im Mindesten mithalten. Und außerdem hat er nach wie vor einen sogenannten Love Interest – gibt’s Loveinterestphobie? – der erst auf Seite 150 auftritt).

Love you, Hattuša.

Das Leben ist schön. Nach R’s Konzert haben wir ein Restaurant entdeckt, das wirklich und wahrhaftig Erebuni heißt. Gestern wollten wir vor lauter Yerevan-Sehn- und Fühlsucht dort essen gehen, doch es hatte geschlossen, weshalb wir in einem soliden Londoner Pub landeten und nichts aßen. Zum Ausgleich bleiben – nachdem wir kurz vorm Aufgeben waren – die ersten ostarmenischen Worte hängen. Ganz wirklich. (Dass ich lieber westarmenische Worte lernen würde, weil ich unverbesserlich bin und jeder todesgefährdeten Sprache meine Liebe nachschmeißen muss, behalte ich jetzt mal für mich. Man kann ja nicht an allem herummeckern. Gibt’s eigentlich Sprachtodphobie?) Heute backt R, der der Backsucht verfallen ist, für einen Abend mit Freunden Focaccia und ich soll Polenta machen. Ich wollte ihn überreden, stattdessen Lavash zu backen, und bot an, mich zum zweiten Mal an Harissa zu versuchen, aber er traut sich nicht. Ist auch gut so. Focaccia ist Zuhause, und Lavash ist der schöne, fremde Geliebte. A dekantiert ausnahmsweise Chianti Classico. Das Leben ist schön.

Seid ihr wieder da?

Wer sich nie selbst verliert, kann der sich wiederfinden?

Ich habe mich nicht sattgesehen. Ich habe mich hungrig geliebt.

Wenn man entjungfert wird, reißt etwas. Wächst es wieder zu? Wächst eine neue Haut im Innern, während die alte, die die Misere verhüllt, immer durchgepflügter und weniger appetitlich wird?

Du hast mich entjungfert, Yerevan.

Es hat geblutet, und die Blutung ist nicht still. Etwas in mir ist gerissen. Du hast mir wehgetan, Yerevan, da wo die altersschwache Haut noch Nerven hat, die sich verletzen lassen. Wo sie noch Angst hat. Wo sie sich, wenn einer zupackt, noch fühlt wie roh und jung und neu.

Zurückgekommen bin ich – was das Schreiben betrifft – in nichts Schönes. Der Roman, den ich vor Hattuša dreist und überschwänglich für meinen stärksten, ehrlichsten, schönsten hielt, bekommt eins von diesen Foto-Covers für zwangshistorisierte Trivialromane aufgedrückt.

Habe ich so einen geschrieben?

Ich fühl mich auf höhnische Weise auf den Teppich gebracht. Wer war eigentlich das aufgeplusterte Geflügelweibchen, das sich einbildete, es hätte nach zwanzig Jahren Arbeit und Passion zum Thema Renaissance etwas zu sagen? Wer steckte eigentlich unter der stolzgeschwellten Hühnerbrust, wer war sich fast sicher, er könne von Yerevan etwas mitnehmen, schmelzenden Schnee in gekühlten Händen, ihn behutsam in Seiten schlagen und eine Geschichte erzählen, die Ararat heißt?

Für einen langen Augenblick hat mein Größenwahn mir eingeflüstert, ich hätte eine Spur von Ossip Mandelstams Ararat-Sinn in mir selbst. Ein Echo, das Noahs Berg in den Augen von Menschen lässt, die ihn nach der Sintflut angesehen haben.

Das ist lachhaft.

Ich bin kein Erbe von Petrarca und Mandelstam, ich hab kein Echo von Noahs Berg in den Augen und nach mir die Sintflut. Ich bin ein Huhn mit Schreibklauen, das einen Trivialroman geschrieben hat.

Trotzdem, Yerevan. Tausend Dank. Nach dir kann ich Hengste nehmen, Bullen, Widder, Drachen oder Bernhardinerhunde (mit freundlichem Dank an Henry M.). Nach dir kann ich Yerevan nehmen, und nach dir bin ich zumindest eine Trivialromane schreibende Tussi, die von Biss und Wollust, die sie mal hatte, noch etwas spürt.

Hätt‘ ich ein bisschen mehr von deinem Stolz mitgebracht, Yerevan, ich risse meinem gedemütigten Buch das würdelose Cover herunter und legte es mir nackt zwischen die Schenkel, die vor Erregung zittern und sich noch immer nicht einreden lassen, wie alt sie sind.