Die Geschichte von Gregor dem Erleuchter

Der Mann sagte nichts und sah Eva noch immer nicht an.

„Ekeln Sie sich jetzt?“

„Nein.“

„Woran denken Sie?“

„Das wollen Sie nicht wissen.“

„Sagen Sie’s mir.“

„An Gregor den Erleuchter“, sagte er.

„An wen bitte?“ Sie setzte sich auf, und das Tuch rutschte ihr von der Stirn.

„Ein Heiliger“, sagte er. „Einer, der vierzehn Jahre lang in einem Loch eingesperrt war, das Khor Virap, tiefer Brunnen, heißt, und vermutlich dachte, er kommt da im Leben nicht mehr raus.“

„Warum war er denn da drin?“

Er zuckte die unverletzte Schulter. „Das Übliche. Er war irgendwas, was die anderen nicht waren und was ihnen nicht gepasst hat. Christ. Das alles soll im dritten Jahrhundert passiert sein.“

„Und ist er wieder rausgekommen?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Angeblich hat sich König Trdat, der ihn dort eingesperrt hatte, in ein Wildschwein verwandelt, und brauchte unbedingt Gregor den Erleuchter, um wieder ein Mensch zu werden.“

„Also hat er ihn rausgelassen?“, fragte Eva und verspürte einen Anflug von etwas, das sie vergessen hatte. Amüsement. „Sie haben eine ziemlich eigenwillige Art, Geschichten zu erzählen. Man muss Ihnen alles aus der Nase ziehen.“

„Das sagt Chaja auch.“

„Haben Sie Chaja das von Ihrem erleuchteten Gregor erzählt?“

„Ja.“

„Ist es eine türkische Legende?“

„Nein.“

„Zum Teufel, jetzt reicht’s mir“, schnauzte sie ihn an. „Ja, nein, ja, nein – sprechen Sie irgendwann auch mal in ganzen Sätzen?“

Er erschrak und zog den Kopf ein. Eva glaubte, die Bewegung zwischen den eigenen Schultern zu spüren.

„Du lieber Himmel“, sagte sie, hob die Hand und wollte seine Wange berühren, aber er wich zurück. „Ich hab’s nicht böse gemeint. Ich rede immer so mit Leuten, ich meine, ich habe früher so mit Leuten geredet …“

„Sie sind ja auch aus Berlin“, sagte er.

Eva musste lächeln. „Geboren bin ich in Frankfurt. Aber Berlin, fand ich, war meine Stadt.“

„Das finde ich auch.“

„Danke“, sagte Eva. „Dort, wo ich gewohnt habe, in der Bleibtreustraße, haben wir ziemlich lange geglaubt, wir würden uns unser Berlin nicht wegnehmen lassen, und diese komischen Schweinchen in ihren braunen Hemden bräuchten unbedingt uns, um sich wieder in Menschen zu verwandeln. Vor allem habe ich gedacht, ich könnte Martin wieder in einen Menschen verwandeln. Er war ein so schöner Mensch, aber ich war keine Heilige. Warum haben Sie Chaja die Geschichte von Ihrem Erleuchter erzählt?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich raunze Sie nicht wieder an“, sagte Eva. „Ich habe gesehen, dass Sie das ganz und gar nicht mögen. Aber dafür geben Sie sich jetzt Mühe und sagen ein bisschen mehr als ja, nein, weiß nicht, einverstanden? Na los. Warum haben Sie’s Chaja erzählt?“

„Ich weiß wirklich nicht“, sagte er. „Vielleicht weil ich das dachte, was Sie gesagt haben: dass ich mir Khor Virap nicht wegnehmen lasse. Chaja gefallen meine komischen Geschichten. Sie denkt sich immer aus, wie sie weitergehen könnten.“

„Wo ist das denn, Khor Virap?“, fragte Eva.

„Am Berg Ararat.“

Eva erschrak. Wann hatte sie das Wort zuletzt gehört? In Martins Villa, damals im Herbst 1937, als er ihr erzählt hatte, dass ihre Steinriesen und ihr Film vernichtet worden waren, weil Hitler nicht wollte, dass jemand nach dem Volk vom Berg Ararat fragte.

Sie sah ihn an. Eines seiner Lider hing tiefer als das andere, und unter dem Auge grub sich eine Narbe ins Fleisch. „Sie sind kein Türke.“

„Was sind Sie?“, fragte er. „Deutsche?“

Eva überlegte.

„Vielleicht dachte ich, ich sei Türke“, sagte er. „Als Kind hatte ich einen von Jungtürken ausgestellten Inlandspass, aber dann durfte ich ihn nicht mehr haben. Ich war nicht türkisch genug für meinen türkischen Pass.“

„So wie ich?“

„Ich glaub‘.“

Dann sagten sie nichts mehr. Sie waren völlig erschöpft, und Eva konnte nicht fassen, dass sie in einer einzigen Nacht das alles gesagt hatte.

„Schlafen?“, frage er leise.

Eva nickte.

„Sie behalten den Verschlag für sich. Ich lege mich ins Heu.“

„Das brauchen Sie nicht.“

„Ich finde es ganz schön.“

Sie hätte es schön gefunden, ihn im Schlafen bei sich zu haben. Nichts an ihm war ihr zuwider, nichts versetzte ihren Körper in Angst. Sie hatte noch nie an einem Mann so dichtes Haar gesehen und hätte gern gewusst, wie es sich anfühlte.

„Gute Nacht“, sagte er.

Eva lächelte. „Gute Nacht, Gregor der Erleuchter. Ich glaube, Sie haben mich in diesen letzten Stunden wieder in einen Menschen verwandelt.“

„Sie waren ja kein Wildschwein.“

„Ein Wurm“, sagte Eva. „Eine Kakerlake. Irgendein Ungeziefer, das kein Mensch mit der Hand anfasst, wenn er nicht muss.“

Er presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und ging.

Ararat – “Und sie werden nicht vergessen sein” Knaur Taschenbuch, 25. Februar 2016

Kohrvirab

(Photo by Andrew Behesnilian)

 

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Ratten und Menschen

Wilma schob ihm die Schachtel hin. „Dieser Mann von meiner Bekannten, den ihr den Türken nennt“, sagte er, steckte die Gauloise an und musste husten. „Der ist gar kein Türke.“

„Und du glaubst, das juckt mich? Was ist der denn? Bantu-Neger?“

„Armenier“, sagte Paul.

„Ja, und? Ist das was Verruchtes, lassen die sich Schwänze wachsen oder essen zum Frühstück kleine Kinder? Begegnet ist mir noch keiner, dabei ging hier früher alles mögliche Volk ein und aus.“

„Dir wird auch keiner begegnen“, sagte Paul. „Es sei denn, du fährst nach Armenien. Die Westarmenier, die im Gebiet der heutigen Türkei lebten, existieren nicht mehr. Ihr gesamtes Volk ist bis zum Ende des Weltkriegs ausgerottet worden.“

Er zog an seiner Zigarette. Wilmas Blick huschte durch die Rauchwolken über sein Gesicht. „Mach halblang“, murmelte sie. „Menschen sind keine Ratten. Die auszurotten würde nicht mal der Irre mit dem Schnurrbart wagen.“

„Vielleicht haben die Armenier das auch gedacht“, sagte Paul. „Halten wir still, warten wir‘s ab, es wird so schlimm schon nicht werden, denn Menschen sind ja keine Ratten. Der Vater von dem, den ihr den Türken nennt, war ein anerkannter Wissenschaftler. Er hat auf seine Stellung vertraut, war sicher, an ihm werde niemand sich vergreifen. Das hat seine Familie das Leben gekostet. Seine Tochter war, glaube ich, so alt wie Evas Kind.“

Etwas legte sich um Wilmas Herz, eine Klammer aus kaltem Metall. Von irgendwoher kam ihr eine Frage in den Sinn, die nicht warten konnte: „Paul, wer ist Erwin vom Rath?“

“Und sie werden nicht vergessen sein” Knaur Taschenbuch, 1. März 2016

Yerevantunnel

Zum 27. Januar.

“The Holocaust is not a redemptive story. The loss is too great to gain any positive meaning out of it.”

Die zwei Sätze, gesprochen von Rob Perks, Lead Curator of Oral History in the British Library, haben mich auf der gestrigen (hervorragenden) Gedenkveranstaltung “Life in a Jar” sehr beeindruckt. Sie auszusprechen, erfordert einen Mut, der sich so selten findet, dass er mich zumindest völlig überrumpelt. Den Mut, einen Schrecken zu ertragen, dem kein Aber folgt. „Nach dem Völkermord zieht keine Karawane weiter“, hat meine kluge Kollegin Angelika Jodl dazu einmal gesagt. Ich denke, wir müssen das wissen, ehe wir wagen, die Hände nach dem Thema zu strecken. Bitternis aushalten üben, ohne süßliche Milderung. Gewiss können wir uns bemühen, einen Funken Licht zu zeigen, als den Rob Perks gestern Menschen wie Irena Sendler bezeichnete, doch wir müssen unter den letzten Punkt Ende schreiben. Nicht Aber. Nicht: Die Karawane zieht weiter.
Ich finde daran nichts Schwarzseherisches, und die gestrige Veranstaltung war keine, in der nicht gelacht, begrüßt, umarmt, geschwatzt und angestoßen wurde. Ich finde es richtig. Eine Tatsache, die anzunehmen, für mich den einzigen Weg darstellt, weiterzugehen, ohne klaffende Zacken der Unerklärlichkeit in die Historie zu schneiden. Ohne aufzuhören, auf der Hut zu sein.

GenozideMonumentYerevan1Auschwitz