Vorm Abreisen

Über eines zumindest waren wir – die Carmen und ich – uns einig: Dieser/dieses (?) Blog sollte nicht von meinen kleinen Ausflügen in die erquickliche Umgebung (wir wohnen recht punktgenau da, wo sich die Verbindungslinien zwischen den Ripper-Morden kreuzen) oder meinen Versuchen, ein eher abenteuerlich übersetztes armenisches Kochbuch zu bändigen, ohne meine Familie zu vergiften, handeln, sondern vom Romanschreiben oder Romannichtschreiben. Da der Themenkreis Romanschreiben und Romannichtschreiben sich bei mir jedoch phasenweise unkrauthaft ausbreitet, sind Überschneidungen nicht immer vermeidlich. Gestern habe ich – dank einer sehr freundlichen, sehr aufmerksamen Kollegin – den Film „Haus der Lerchen“ gesehen. Jetzt sitze ich da mit meinen Überschneidungen.

Anderswo darf ich gerade interessanten Gedanken zum Thema Lesererwartung zusehen, die mir auf die Sprünge helfen. Ich glaube, dass war’s und bleibt’s, was ich von Literatur – und Kultur überhaupt – erwarte: Dass sie etwas mit mir macht. Dass sie mich im Nacken nimmt und ein bisschen schüttelt. Dass sie sich nicht zuklappen lässt. Zwanzig Jahre lang habe ich zu lernen versucht, so Geschichten zu erzählen: dass sie etwas mit Menschen machen.  Nach zwanzig Jahren und völliger Erschöpfung habe ich mir erlaubt, den Stempel „Kann ich nicht“ darauf zu stempeln und die Akte zu schließen. Jetzt lerne ich seit knapp zehn Jahren, Geschichten zu erzählen, die Menschen in Ruhe lassen. Ich will nicht behaupten, das sei leicht, aber es ist nicht Kann-ich-nicht. Es ist nur manchmal – nicht mehr allzu oft – stattdessen Warum-muss-ich?

Ich halt mich an Ararat (und wenn ich Ararat, der gar nicht da ist, schreibe, meine ich immer seinen Vorgänger, Hattuša, der da ist, mit) fest, weil er mir das – anders als meine anderen – beschert hat: Er hat etwas mit mir gemacht. Mich im Nacken genommen. Mein Schöner, mein Schwarzer. Er erlaubt mir nicht, ihn zuzuklappen. Zuweilen, in dem ganzen Wust von Schreib-Arbeit, die sich mit erschreckender Geschwindigkeit von mir entfernt, führt das zu einer gewissen falschen Euphorie. Denn natürlich macht zumindest mein fertiger Roman Hattuša das mit mir, weil ich – im Gegenteil zum späteren Leser –den Roman sehen kann, der Hattuša hätte werden können, wenn er nicht von mir wäre. Und mein nicht existenter Roman Ararat macht das mit mir, weil ich den und nur den sehe, der er werden müsste, wenn er nicht gezwungen wäre, von mir zu sein.

Ist er gezwungen? Könnte ich ihn nicht auch freilassen, wohlwissend, dass er ungeschrieben besser dran ist, weil ich dem, der er nicht nur sein könnte, sondern vor allem sein müsste, nicht gewachsen bin? Ist das kein Liebesakt? Genügt als mildernder Umstand, um sich an einer Geschichte zu vergreifen, dass man nach ihr süchtig ist?

Ich habe „Haus der Lerchen“ gesehen und bin darüber froh, weil es mich – bei aller Verliebtheit (gerade dabei) – an das erinnert hat, was ich eigentlich (im Prinzip) hier machen wollte. Und auch daran, dass ich das nicht kann und dass ich es meinem Roman schulde, mir zu überlegen, ob das, was ich stattdessen könnte, ihm eigentlich taugt. Ich denke, ich nehme jetzt meinen Roman Ararat und trage ihn an den Ararat (na ja, nicht ganz. Aber in Sichtweite. So wie der Mond kein Teil der Türkei ist) und dabei frage ich mich dann eine Woche lang, wie es mit uns beiden weitergeht – was ich für ihn tun kann, ob ich das fertigbringe, ihn zu schweigen, statt ihn zu schreiben, auf ihn zu verzichten, statt ihn in meiner Umarmung zu ersticken. Und wenn ja – was ich dann für mich tun kann. Damit ich mir nicht untergehe. Damit ich da stehen und gehen kann, wo ich jetzt stehe und gehe und wo ich mich, wie ich gerade bemerke, wiedererkenne. Damit ich „Haus der Lerchen“ sehen und „Buch des Flüsterns“ lesen kann und mich nicht in Schreib-Arbeit verliere, die sich von mir längst viel zu weit entfernt hat.

Heute mag ich uns beide. Ararat und mich. Und die Carmen lassen wir draußen. Die braucht keinen von uns.

Wenn einer das liest, wünsch‘ ich ihm eine schöne Woche. Und wenn nicht, dann auch.

Charlie

Spellbound

Die Carmen macht’s nicht. Sich umdrehen und dem Leser ein Lächeln stiften. Sie macht gar nichts, sagt sie, und ihre Figuren überlässt sie mir auch nicht. Ich soll meine eigenen benutzen oder mir neue suchen, die Welt zwischen Erdoberfläche und Himmelsrand sei voll davon. Die Carmen spinnt. Sie hat kein Herz und kein Nervenkostüm, deshalb ist sie ahnungslos und hat keine Vorstellung vom One-and-only.

Für mich gibt’s keine anderen Figuren. Keine alten und keine neuen. Für mich gibt’s keine anderen Romane. Nur Ararat. Heute erfahren, wie der deutsche Titel von „Spellbound“ heißt und mich amüsiert: „Ich kämpfe um dich.“ Und ob. Heute gelesen bei einer Kollegin: „Ich mag ansehnliche Männer.“ Wer bitte nicht? Ich schon immer und mit knapp vor fünfzig umso mehr. Schulterbreite, Haar schwalbenfarben, Beine wie Galgenstricke und das Grinsen verklemmt im rechten Mundwinkel. So einen schönen wie dich find‘ ich nie wieder. Die Carmen kann mich mal. Ich kämpfe um dich. Wenn wir jedem Risiko zuvorkommen, wird das Leben zum Coitus interruptus und so sexy wie Schweißfüße (wobei ich bei Füßen schon wieder ins Schwitzen komme).

Ich will nichts Handzahmes. Ich will dich. Keinen Chemiebaukasten, sondern einen Roman, bei dem mir das Reagenzglas explodiert.

So geht das besser. Wollen, nicht betteln. Und weil ich noch immer mit dem Rücken zum Leser steh und weder handverwackelte Fotos noch brandaktuelle Berichte zur Lage der abendländischen Kultur zu bieten habe, um von der Nabelschau abzulenken, kam mit heute die Idee, ich könnte mit dem Leser zumindest die aufregenden Schönheiten teilen, die gebratenen Tauben, die mir während des Tages in den Mund fliegen, das was an meinem Leben noch lange nicht fünfzig und unheimlich sexy ist. Worte. Die hier zum Beispiel, von Ossip Mandelstam: „Ringsum reicht den Augen das Salz nicht aus. Man erhascht Formen und Farben – und all dies ist ungesäuertes Brot. So ist Armenien.“

Schönen Abend, ansehnlichste Nacht.

Charlie

Rückansicht

Als ich sehr jung war (wieso klingt das eigentlich wie „Früher, da hatt’n wa noch’n Kaiser“?), hat mir ein Mann, der Raoul Schuster hieß und schreiben konnte, beigebracht: „Stell dich nie mit dem Rücken zum Leser.“ Ich hab das trotzdem immer wieder gemacht, ich hab meine Arme um meine Figuren gelegt und mich samt ihnen mit dem Rücken zum Leser gestellt wie mit dem Rücken zum Wind. Leser mögen keine Rücken. Jedenfalls die meisten nicht und schon gar nicht die aus meiner sogenannten Zielgruppe. Leser rufen ein- oder zweimal: „He, dreh dich mal um“, oder pieksen freundlich in Schulterblätter. Dann trollen sie sich. Suchen andere Gefilde, an denen ja kein Mangel herrscht. Gefilde mit Gesichtern. Irgendwann, ganz kurz vor Toresschluss, habe ich angefangen, an meinem Gewinde zu schrauben und mich ein Stück weit zu drehen. Mühsam. Angstschlotternd. Das kleine Stück Gesicht macht den Kohl nicht fett. Aber es dickt ihn ein bisschen an – gerade so, dass es reicht.

Jetzt steh‘ ich wieder hier, mit dem Rücken zum Leser. Der ist zwar nur imaginär, aber eigentlich sollte er das ja nicht bleiben. Eigentlich würde ich ja gern einen einladen, einen Leser aus Fleisch und mit Augen, eigentlich war ja dieses Experiment dazu gedacht, einem Roman, der nie Werbung erhalten wird, einen Tropfen Licht zu verschaffen, eigentlich … das hat mir auch mal der Mann namens Raoul Schuster beigebracht: „Wenn du schon eigentlich schreibst, schreib im Prinzip.“

Eigentlich oder im Prinzip hätte ich hier gern einen Leser, der mir glaubt (ich weiß nicht einmal, ob die Carmen das tut), wenn ich ihm versichere, dass ich einen Roman schreiben werde, der Ararat heißt, obwohl ich dafür keine Zeit und kein Geld habe und mir damit den Boden unter den Füßen wegreißen könnte. Aber dazu müsste ich mich umdrehen. Und erklären, was ich hier mache. Zu machen versuche. Und warum. Ich müsste die Stirn haben, dem Leser (auch wenn er noch imaginär ist) die Stirn zu bieten. Und meinen Roman Ararat (auch wenn er noch imaginär ist) zwingen, dasselbe zu tun. Wenn mir dafür die Traute fehlt, wenn sich mein Rücken allein bei dem Gedanken verkrampft und ich mir trotzdem weiter wünsche, dass einer ruft: „Dreh dich um“, vielleicht lass‘ ich’s dann morgen mal die Carmen versuchen. Die ist so cool. Die kratzt nichts. Die hat nicht nur auf dem Rücken ein dickes Fell.

Und Ararat lassen wir stehen, wie er will. Vorläufig. Bis er uns abstirbt oder über uns hinauswächst.

Einen schönen Tag auch!

I want you!

Wenn man zu blöd für die Technik ist, geht ein Großteil des Spaßes verloren. Den ganzen Tag gearbeitet, den ganzen Tag über die Arbeit geschimpft, den ganzen Tag Ararat vermisst, den ganzen Tag darauf gefreut, am Abend eine halbe Stunde lang eine imaginäre, in einer weißen Box befindliche Welt mit Ararat vollquatschen zu können – und dann im ersten Posting einen Fehler entdeckt und zehn Minuten mit der Editierfunktion gekämpft, ohne einen Sieg zu erringen. Nun sitz ich hier, bin erschöpft, frustriert und habe vergessen, was ich schreiben wollte.

Die Carmen weiß es auch nicht. Oder sie weiß es und sagt’s mir nicht. Wenn man den ganzen Tag Dinge tut, die man nicht tun will, geht ein Großteil des Feuers verloren. Ich möcht gern im Lotto gewinnen. Ich möcht gern meine Arbeit aus dem Fenster, in den ewigen Regen schmeißen und den ganzen Tag mit Ararat flirten. Während der Arbeit geht das nicht. Zum Flirten brauch‘ ich meinen Kopf, und den kleistert die Arbeit voll. Mit Kleisterkopf kann ich nicht Ararat anflirten. Wer, der sich mit knapp fünfzig in einen unverschämt schönen Kerl verliebt, stellt sich dem mit Kleisterkopf in den Weg und plinkert mit rot geränderten Augen? Ich müsste erst einmal ausschlafen, meine Schultern straffen, ein Liedchen trällern, mir das graue Haar auszupfen. Aber dazu bräuchte ich Zeit, und ich hab nicht im Lotto gewonnen. Die Carmen auch nicht. Oder sie hat’s und sagt’s mir nicht.

Eigentlich ist das hier lustig. Und funktioniert besser als erwartet: So tun, als schaue jemand zu. Und dennoch die Sau rauslassen, weil keiner zuschaut. Frustriert bin ich trotzdem. Ich bin verliebt, ich möchte flirten, ich möchte den ganzen Tag meinen Schönen abkitzeln, ihm den Nacken kraulen, ihn an den tintenschwarzen Haaren ziehen. Stattdessen muss ich lauter Zeug machen, dessen Sinn sich mir verschließt. (Dass sich Sinn verschließt, ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Nebenwirkung von Verliebtsein.) Ich werde von Tag zu Tag frustrierter und neidischer auf alle anderen Verliebten, die flirten und turteln und Frühling spielen dürfen. Kommt einem das immer so vor? Dass alle anderen dürfen, nur man selbst nicht? Haben alle anderen ihre prachtvollen Romane in den Armen und nur ich allein meine hühnerbrüstige Arbeit? Ich wollte heute nicht frustriert sein, ich wollte heute nicht in weiße Boxen blasen müssen, ich wollte meinen Roman schreiben, der Ararat heißt. So wie früher. Als das etwas Sensationelles hatte. Romane schreiben. Welten wachsen sehen. Etwas Verliebtes. Etwas vom Frühling.

Gute Nacht, Ararat. Sei bitte noch da, wenn es irgendwann aufhört zu regnen. Und Carmen und ich auftauchen. Carmen aus dem Winterschlaf, ich aus der Winterarbeit, wir beide aus Winter-was-weiß-ich. Zumindest ist es ein bisschen schön, zu denken: Wenn ich wüsste wie, dann wüsste ich, was ich täte.

Na ja. Ein bisschen bisschen schön.

Charlie

Blogging? Wir?

Ganz sicher sind wir uns nicht. Aber ehe wir uns verzweifelt den nächsten nicht fluchtfähigen Mitmenschen zum Vollquatschen greifen oder aber uns doch noch vor den geöffneten Schrank hocken und ins Schweigen blasen, denken wir – mit hämmernden Herzen: Wir versuchen’s mal.

Das hier wird, glauben wir, ein unansehnlicher Blog ohne reizvolle Illustrationen, die vom Um-den-eigenen-Bauch-Gelaber ablenken oder wenigstens den Besucher besänftigen können. Wir sind zwei technische Volltrottel, die vom Einstellen von Bildern hoffnungslos überfordert sind. Außerdem können wir nicht fotografieren und zeichnen nur Octopusse, die Betrachter für Perücken halten. Sollte nach Ausfüllung dieser Box tatsächlich irgendwo im Internet Text  erscheinen, fühlen wir uns bereits wie zwei Nobelpreisanwärter. Zumindest der Erschöpfung nach.

Vorstellen können wir uns aber immerhin, denn das geht sehr einfach:

Wir heißen Charlie und Carmen und schreiben einen Roman, der Ararat heißt.

Eigentlich schreiben wir noch gar nichts. Aber es tut gut, das mal behauptet zu haben. Trotz Herzhämmerns.

Fürs Lesen danken:

Charlie&Carmen

(Ararat nicht.)