Prophet auf dem Weg zum Berg

Masis. So heißt er unter Armeniern. Der, den wir Ararat nennen und dem der Legende nach der schöne Armenierkönig Ara seinen Namen gab. Mit seinem Leichnam in den Armen soll Semiramis, machtvolle Königin der Assyrer, am Fuß des Berges gesessen und geweint haben. Der Berg, den ich als unzweifelhaft männlich empfinde, ist in Wahrheit eine Frau: Eine Bergschwester, und dass sie ihr Gesicht fast immer in Wolken hüllt, liegt daran, dass Menschen beschlossen haben, sie müsse von ihrer Schwester Aragaz getrennt werden, weil Bergschwestern nicht allzu glücklich sein dürfen. Aragaz und Ararat hatten sich zu fügen, doch seither zeigen sie den Menschen ihre schönen Gesichter nicht mehr. Eine Legende, die Menschen erfüllt haben: Zwischen beiden verläuft heute eine Grenze. Send her home.

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Die junge, sehr schön Englisch sprechende Armenierin, die uns erzählt hat, dass die Bergschwester, die für mich ein Bergbruder bleibt, unter Armeniern Masis heißt, hat auch gesagt: „But mostly we call her – our mountain.“

So möcht‘ ich dich auch gern nennen, Ararat. Nur ein bisschen. Nicht mein Berg, denn das käme mir wie Diebstahl vor, aber mein Lieblingsberg – zumindest im nächsten Jahr, wenn ich dir einen Roman geschrieben und dich bestiegen habe. Daran, dass ich dich – zur Feier meines fünfzigsten Geburtstags – besteigen werde, hege ich keinen Zweifel, seit ich es beschlossen  und begonnen habe, mich vorzubereiten. So etwas klappt bei mir. Meine Beine sind selbstbewusst, marathonerprobt und so schnell nicht ins Stolpern zu bringen. Daran, dass ich dir einen Roman schreiben kann, habe ich in diesen letzten Wochen hingegen wieder erhebliche Zweifel gehegt. Die Frage ist immer dieselbe: Wie kann einer, der etwas derart Entfremdetes schreibt, etwas zu schreiben wagen, das ihm nahe geht? Wie kann einer, der etwas derart Belangloses, Leeres schreibt, die Dreistigkeit besitzen, nach etwas zu greifen, das so viel Gewicht hat? Wie kann einer, der mit enthöhlten Worten um sich schmeißt, darauf hoffen, Worte zu finden, in denen etwas steckt?

Ich hatte Angst, dich anzufassen, Ararat, Masis, Bergbruder, ich hab die noch, wir beide brauchen Zeit. Aber wir kommen uns wieder näher. Ganz langsam, ganz behutsam. Über die Recherche. Ich lese die Prozessakten zum Soromon-Tehlerjan-Prozess und gewinne zwar noch nicht das Gefühl zurück, dass ich diese Geschichte schreiben kann, aber mit jeder Zeile die Gewissheit, dass ich sie schreiben muss. Jetzt habe ich mir doch ein Herz gefasst und heute die Morgenstunden ausgenutzt, um die paar Textbrocken anzuschauen, die vor diesen Wochen – teilweise in Yerevan – entstanden sind. Ich habe mich so gefürchtet, sie könnten an Kraftlosigkeit, an Belanglosigkeit, an Leere der Arbeit gleichen, die ich hinter mir habe. Aber das tun sie gar nicht. Vor meinem Pathos, meinen Superlativen fürcht‘ ich mich auch, weil die gleich neben meiner Fähigkeit zu Belanglosigkeit und Leere hocken, und trotzdem: das ist der kraftvollste Text, den ich bisher geschrieben habe. Der braucht noch viel Arbeit, daran ist noch nichts fertig, aber darin ist Leben.

Das bringt mich zurück zu dir, Ararat. Ganz langsam. Ich glaube, du bist auch als mein Roman so, wie die, mit denen ich meine Besteigung 2015 organisiere, dich beschrieben haben: „Ein freundlicher Berg. Für Anfänger geeignet, sofern sie ausdauertrainiert sind und auch wenn sie ein bisschen Angst haben.“

Schönen Sonntag, Ararat. Masis. Lieblingsberg.

Love, Charlie

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